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Autor
Bettini, Maurizio

Wurzeln

Untertitel
Die trügerischen Mythen der Identität. Aus dem Italienischen von Rita Seuß
Beschreibung

Zeitgemäß und ausgesprochen lesenswert ist das im Kunstmann Verlag erschienene Büchlein von Maurizio Bettini, der sich hier als Altphilologe, Kulturwissenschaftler und Italiener mit dem Begriff der Wurzeln im Kontext kultureller Identität befasst. Er arbeitet unter anderem die suggestive Kraft und Funktion sprachlicher Bilder im schwer greifbaren Identitätsdiskurs heraus und fordert, auch beim bewussten Gebrauch von Sprache auf Toleranz und ein friedliches Miteinander zu setzen.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Verlag Antje Kunstmann, 2018
Format
Gebunden
Seiten
160 Seiten
ISBN/EAN
978-3-95614-235-2
Preis
16,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Maurizio Bettini, geb. 1947, lehrt als Professor für klassische Philologie an der Universität Siena und leitet das Institut für Anthropologie der antiken Welt. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher zur Mythologie und Anthropologie und schreibt regelmäßig für »La Repubblica«.

Zum Buch:

Zeitgemäß und ausgesprochen lesenswert ist das im Kunstmann Verlag erschienene Büchlein von Maurizio Bettini, der sich hier als Altphilologe, Kulturwissenschaftler und Italiener mit dem Begriff der Wurzeln im Kontext kultureller Identität befasst. Er arbeitet unter anderem die suggestive Kraft und Funktion sprachlicher Bilder im schwer greifbaren Identitätsdiskurs heraus und fordert, auch beim bewussten Gebrauch von Sprache auf Toleranz und ein friedliches Miteinander zu setzen.

Sehr konkret schlägt Bettini vor, sich in der Diskussion um eine (vermeintliche) kulturelle Identität eher einer horizontalen statt einer vertikalen Metapher zu bedienen, statt der Wurzeln das Bild des Flusses zu bemühen, der, sich aus vielen Quellen speisend, dahin fließt, statt vollkommen statisch ortsgebunden zu sein. Er verweist auf die Notwendigkeit der Anschaulichkeit bestimmter sprachlicher Bilder, egal ob diese im alltäglichen oder im politischen Diskurs Verwendung finden. Eine so genannte Tradition käme eben gerade nicht aus dem Boden – wie es die Wurzel-Metapher impliziere – sondern werde eingeübt und erlernt im jeweiligen Lebensumfeld, auch auf sprachlicher Ebene. Wie groß in diesem Zusammenhang der Einfluss von Schrift bzw. Verschriftlichung nationaler Ereignisse auf zukünftige Traditionen und auf eine kollektive Erinnerung ist, ist sicher nicht neu, wird vom Autor aber noch einmal sehr gut herausgearbeitet. Die individuelle Erinnerung werde ergänzt durch ein historisches Gedächtnis, das z.B. durch Gedenktage erst erlernt werden müsse, um als Teil der eigenen Kultur verstanden zu werden.

Hoch aktuell ist auch Bettinis Kritik an der Lega (Nord), die in ihrer Argumentation ganz klar die Verteidigung italienischen Bodens gegen „Überfremdung“ fordert und als Bild eine „Verunreinigung“ eben jenes Bodens verwendet. Hier greift die Anschaulichkeit der Bilder des Bodens und der in ihm wurzelnden nationalen Zugehörigkeit nahtlos ineinander.

Der Autor warnt davor, die individuelle mit der kollektiven Erinnerung und Anthropologie mit Nostalgie zu verwechseln. Er warnt auch davor, diese nostalgische Komponente zu unterschätzen, und verwendet eine ganz persönliche Bestandsaufnahme zur Veranschaulichung einer solchen Nostalgie. Bei der Beschreibung seiner Empfindungen beim Spaziergang durch die heutigen Straßen Livornos, der Stadt seiner Kindheit, macht er sich bewusst, dass das für ihn traurige Verschwinden des Meersfrüchte-Imbiss, in dem er immer mit seinem Vater aß, nicht etwa von einer Kebab-Bude verursacht wurde, sondern durch die Umweltverschmutzung und Überfischung unserer Meere. Bettini räumt zwar ein, dass ihn die starken Veränderungen der Straßen seiner Kindheit nicht fröhlich stimmten, er aber um die Gefahr wisse, wie leicht dieses persönliche Verlustgefühl mit einer Schuldzuweisung beispielsweise gegenüber maghrebinischen Einwanderern vermischt werden könne. Mit dieser persönlichen Anekdote ruft Bettini dazu auf, eine potentielle Vermischung und Verwechslung unterschiedlicher Ebenen gesellschaftlich zu thematisieren, damit populistische Politiker sich diese sehr verbreiteten menschlichen Empfindungen nicht mehr zunutze machen können.

Bettinis Buch ist spannend, durch unterschiedlichste Beispiele sehr anschaulich und liefert viele Argumente, uns mit dem Begriff einer kulturellen oder gar nationalen Identität wieder und wieder zu beschäftigen. Mehr denn je müssen wir Menschen in einer globalen und populistischen Hetzern ausgesetzten Welt darüber nachdenken und sprechen, wer wir in Zukunft sein wollen, ob wir uns vor Veränderungen und dem Unbekanntem fürchten oder doch lieber denen entgegentreten wollen, die Stillstand oder gar Rückschritt zu erzwingen versuchen.

Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt