Zum Buch:
„Ich weiß nicht, wohin es geht.“ Damit beginnt der erste Roman der Theaterautorin Sasha Marianna Salzmann, und damit ist der Leser sofort mitten in der Handlung. Der Bogen wird gespannt von der Kindheit in der Sowjetunion über das Asylantenheim in der Bundesrepublik und eine Berliner Wohngemeinschaft bis hin zu den Gezipark-Demonstrationen und dem Putschversuch im Sommer 2016 in der Türkei.
Auf der Suche nach ihrem Zwillingsbruder Anton landet Alissa, genannt Ali, in Istanbul am Rand Europas. Hier in den Gassen von Tarlabasi, in dem Viertel der Roma, der Kurden und Transvestiten, kann sie über das Goldene Horn bis nach Kasimpasa sehen. Hier findet sie jederzeit auf dem alten, rostbraunen Sofa von Onkel Cemal Zuspruch und hört seinen Geschichten zu. Hier in den Seitengassen in Beyoglu, wo sie in der Hoffnung, Anton zu finden, sich mitnehmen lässt, wo sie in den Spiegeln der Bars meint, Anton zu sehen, wo sie Katharina aus Odessa entdeckt, der gerade dabei ist, sich in Katho zu verwandeln, und wo sie sich die Frage stellt, woher sie kommt, sich ihrer Familie erinnert. Bis zurück zu den Urgroßeltern in Odessa reichen die Erinnerung und Erzählungen, deren Geschichte von der Erfahrung des Aufbaus und des Gebrauchtwerdens auf der einen Seite wie des Antisemitismus und des Verlorenseins auf der anderen geprägt ist.
Aus der Suche nach dem Bruder ist längst die Suche nach der eigenen Person geworden. Russland, Judentum, Deutschland, Geschlecht. Was bedeutet was? Migration und Identität sind eng miteinander verwoben. Die Perspektiven wechseln, die Zeiten schieben sich ineinander. Der Putschversuch vom Sommer 2016 beendet gewaltsam Alis Aufenthalt in Istanbul. Ein Jahr lang war die Stadt eine Kulturhauptstadt Europas.
Mit ihrem ersten Roman ist Sasha Marianna Salzmann das Kunststück gelungen, die eigene Geschichte in das Porträt einer Generation zu verwandeln, deren Kämpfe und Träume, deren Verwundungen und Hoffnungen der Geschichte ihren Stempel aufdrücken werden. Ausser sich erzählt von den Suchbewegungen nach dem „Bei sich“, einer Suche, die uns alle angeht.
Marion Victor, Frankfurt am Main