Zum Buch:
„Die Erde ist bekanntlich ein Trümmerhaufen vergangener Zukunft …“ (S. 19)
Die Vorbemerkung zu Judith Schalanskys neuem Buch Verzeichnis einiger Verluste beginnt mit einer Aufzählung des Verschwindens: eine Raumsonde verglüht, Jahrtausende alte Tempel in Palmyra werden gesprengt, eine Boeing ist nicht mehr auffindbar, ein See versandet, das letzte Breitmaulnashorn verendet. Eine Seite lang Verluste. Dann eine zweite mit Neu- oder Wiederentdeckungen: ein bis dahin unbekanntes Romanmanuskript von Walt Whitman wird entdeckt, hunderte Zeichnungen von Piranesi tauchen auf, das als ausgestorben geltende Blauaugentäubchen wird gesichtet, die verschollen geglaubten Schiffe von Franklins gescheiterter Polarexpedition wurden ausfindig gemacht … Werden und Vergehen, Auftauchen und Verschwinden – der ewige Kreislauf aller Lebewesen und Dinge. Aber auch, wenn alles Neue den menschlichen Intellekt belebt und anregt, scheint nichts einen größeren Reiz auf die Phantasie auszuüben, als unwiederbringlich Vergangenes, Verschollenes oder Unvollendetes.
Dem geht Schalansky, Autorin, Buchgestalterin und Herausgeberin der „Naturkunden-Reihe“ in zwölf Kapiteln nach. Sie erzählt von einer Insel, die auf älteren Landkarten verzeichnet und heute nicht mehr aufzufinden ist, von der prächtigen Villa Sacchetti vor den Toren Roms, die bereits kurz nach ihrer Fertigstellung wieder zur Ruine wurde, spricht über die griechische Dichterin Sappho, deren wenige erhaltene Fragmente ihrer Verse bis heute eine ungebrochene Faszination ausüben oder über die verbrannten Schriften des gnostischen Propheten Mani.
Ebenso unterschiedlich wie die Gegenstände ihrer Erzählungen ist der jeweilige Stil. In Kaspischer Tiger imaginiert sie eine Tierhatz zwischen einer der Großkatzen und einem Löwen im Zirkus von Rom, Der Knabe in Blau ist der furiose innere Monolog einer alternden Hollywood-Diva, die nach ihrem Rückzug vor der Öde ihres Lebens in stundenlange Spaziergänge flüchtet. Caspar David Friedrichs Bilder vom Hafen von Greifswald sind der Ausgangspunkt für eine Wanderung durch eine Landschaft, in der nur noch Bruchstücke diese Bezeichnung verdienen und die dennoch voll Schönheit ist.
Schalansky ist eine großartige Stilistin, deren Fantasie ebenso fesselt, wie ihr stupendes Wissen erstaunt. Immer weisen ihre Erzählungen über den engen Gegenstand hinaus, führen zu Reflektionen über vermeintlich anderes, und am Ende stellt man mit Verblüffung fest, wie viel Gemeinsames darin enthalten ist. Jeder Abschnitt beginnt mit einer Art lexikalischem Eintrag, der den Inhalt nüchtern umreißt. Das erinnert an Borges, allerdings sind Personen und Orte bei Schalansky im Gegensatz zu diesem real – auch wenn sie wie Fiktionen wirken. Aber genau wie bei Borges setzen sie einen eigenen Strom von Assoziationen und Gedanken frei, der lange nachhallt.
Verzeichnis einiger Verluste ist ein kluges, unterhaltsames Buch und trotz seines Themas weder niederschmetternd noch traurig, denn darum geht es der Autorin nicht. Sie sagt in ihrem Vorwort dazu: „So handelt dieser Band gleichermaßen vom Suchen wie vom Finden, vom Verlieren wie vom Gewinnen und lässt erahnen, dass der Unterschied zwischen An- und Abwesenheit womöglich marginal ist, solange es die Erinnerung gibt.“
Wie schön, dass es solche Bücher gibt. Und dieses ist dazu noch ganz wunderbar gestaltet!
Ruth Roebke, Bochum