Zum Buch:
Eine Empfehlung für Philip Pullmans neues Buch Über den wilden Fluss zu schreiben heißt, sich an zwei Lesergruppen zu wenden: Diejenigen, die seine Triologie His Dark Materials – auf Deutsch unter den Einzeltiteln Der goldene Kompass, Das magische Messer und Das Bernstein-Teleskop – gelesen haben, und die, die hier zum ersten Mal in den von ihm erdachten Kosmos mit seiner Heldin Lyra Belaqua eintauchen. Die erste Gruppe ist vertraut mit den Welten, in denen sich die Handlung abspielt, mit Teilen des Personals, den Dæmonen, den teilweise eigenartigen Begriffen, die Pullman benutzt, und vor allem mit dem Stoff, der auch in seinem neuen Buch Antrieb für alle Geschehnisse zu sein scheint: „Staub“. Beiden Lesergruppen kann man versichern, dass dieses Buch sie (nach einem etwas holperigen, der Übersetzung geschuldeten Anfang) schnell in ihren Bann ziehen und bis zur letzten Seite fesseln wird.
Die Geschichte spielt in der Stadt Oxford, die jedoch weder zeitlich noch räumlich der heutigen entspricht, ohne dass klar wird, ob dieses Oxford in der Vergangenheit oder der Zukunft liegt. Ein Parallel-Oxford in einem Parallel-Britannien. Diese Welt ist gleichermaßen viktorianisch altmodisch und fantasievoll vorausweisend, in ihr es gibt Hexen, Geister und Menschen. Zu jedem Menschen gehört von Geburt an ein Dæmon, ein Wesen in Tiergestalt, das Pullman in einem Interview als „Verkörperung der Innenwelt eines Menschen durch ein Tier“ bezeichnet hat. Mensch und Dæmon sind eine Einheit, sie zu trennen bedeutet unvorstellbaren Schmerz für beide.
Das einstmals freie und liberale Britannien wandelt sich unter dem zunehmenden Einfluss der Kirche in eine Theokratie. Was erlaubt ist und was nicht, bestimmt das „Magisterium“, die oberste kirchliche Behörde, die mit ihren Institutionen und ihrem Geheimdienst alles zu überwachen versucht. Aber es gibt Widerstand gegen diese Entwicklung, gerade unter Wissenschaftlern und Forschern, deren Interesse sich auf ein Phänomen richtet, das sie „Staub“ nennen und hinter dem die Kirche gleichermaßen her ist.
Der elfjährige Malcom wächst in einem Wirtshaus am Ufer der Themse auf, das seine Eltern betreiben. Auf der anderen Seite des Flusses befindet sich ein Kloster, in dem er sich häufig aufhält und den Nonnen mit kleinen Dienstleistungen behilflich ist. Seit kurzem gibt es im Kloster einen ungewöhnlichen Gast: ein Baby, das die Nonnen zu verstecken scheinen und das Malcolm schnell in sein Herz geschlossen hat. Offensichtlich droht dem Kind Gefahr, denn immer wieder versuchen Männer, das Baby in ihre Gewalt zu bringen. Malcolm beschließt, die kleine Lyra, was auch geschieht, zu schützen, und das ist auch sehr schnell bitter nötig.
Mehr muss hier nicht erzählt werden, außer dass dieses Buch seine Leser (nach einem sprachlich etwas holperigen Anfang, der aber der Übersetzung geschuldet ist) schnell in seinen Bann ziehen und bis zur letzten Seite fesseln wird. Über Philip Pullman schrieb Urs Jenny 2001 in einer langen Besprechung der Dark Materials im „Spiegel“, angelsächsische Fantasy-Kenner hielten ihn „… für den bildmächtigsten Weltenerfinder und virtuosesten Abenteuer-Anzettler…“. Dem ist wenig hinzuzufügen. Seine Bücher sind nicht nur einfach voller Dinge und Wesen, die nicht von unserer Welt sind, auch wenn es davon genug gibt. Hinter all den Gefahren und Abenteuern, die seine Helden bestehen, stecken durchaus ernstzunehmende Gedanken, und er schöpft ungeniert aus dem reichhaltigen literarischen Fundus der englischen Literatur. So ist auch Über den wilden Fluss nicht nur für Jugendliche eine spannende Lektüre, wie jede gute Fantasy-Saga hat sie auch dem erwachsenen Leser einiges zu bieten.
Ruth Roebke, Bochum