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Autor
Shibli, Adania

Eine Nebensache

Untertitel
Roman. Aus dem Arabischen von Günther Orth
Beschreibung

1949 in der Negev-Wüste. Ein Trupp Soldaten des neu gegründeten Staates Israel ist dort für längere Zeit stationiert, um die Grenze zu Ägypten zu sichern, aber auch, um „den Südwesten des Negev systematisch zu durchkämmen und von etwaig verbliebenen Arabern zu säubern.“ Keine leichte Aufgabe für den befehlshabenden Offizier, der neben den erforderlichen täglichen Patrouillen dafür sorgen muss, seine Soldaten in der drückend heißen Einöde so zu beschäftigen, dass die militärische Disziplin gewahrt wird …

Eine Nebensache ist ein meisterhaft komponierter Roman, zu dessen Lektüre man nur dringend raten kann.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Berenberg Verlag, 2022
Format
Gebunden
Seiten
120 Seiten
ISBN/EAN
978-3-949203-21-3
Preis
22,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Adania Shibli, geboren 1974 in Palästina, schreibt Romane, Theaterstücke, Kurzgeschichten und Essays und ist zudem in der akademischen Forschung und Lehre tätig. »Eine Nebensache« ist ihre erste Buchveröffentlichung auf Deutsch, die englische Übersetzung war für den ­National Book Award (2020) sowie für den ­International Booker Prize (2021) nominiert. Adania Shibli lebt in Palästina und Deutschland.

Zum Buch:

1949 in der Negev-Wüste. Ein Trupp Soldaten des neu gegründeten Staates Israel ist dort für längere Zeit stationiert, um die Grenze zu Ägypten zu sichern, aber auch, um „den Südwesten des Negev systematisch zu durchkämmen und von etwaig verbliebenen Arabern zu säubern.“ Keine leichte Aufgabe für den befehlshabenden Offizier, der neben den erforderlichen täglichen Patrouillen dafür sorgen muss, seine Soldaten in der drückend heißen Einöde so zu beschäftigen, dass die militärische Disziplin gewahrt wird. Disziplin bedeutet in seinen Augen auch, um seiner Vorbildfunktion willen die langsam fortschreitende Blutvergiftung an seinem Bein, verursacht durch einen Insektenstich, weitmöglichst zu ignorieren. Sachlich und fast unerträglich genau beschreibt Adania Shibli die Innenwelt ihres Protagonisten ausschließlich durch das, was er tut: seine penibel eingehaltenen Routinen, seine zwanghafte Reinlichkeit, die Symptome seiner Vergiftung, die fiebrigen einsamen Ausflüge in die nächtliche Wüstenlandschaft. Und mit derselben sachlichen Genauigkeit wird dann auch der „Erfolg“ der militärischen Mission beschrieben: Die Patrouille stößt auf eine kleine Gruppe Beduinen, erschießt die Männer und ihre Kamele und nimmt die einzigen Überlebenden, ein total verängstigtes, etwa zwölfjähriges Mädchen und ihren Hund, mit in die Unterkunft. Was dann folgt, ist absehbar: Gruppenvergewaltigung und Mord.

Szenenwechsel. 75 Jahre später. Eine junge Frau putzt akribisch ihre neue Wohnung in Ramallah. Wir erfahren nichts über sie, weder Namen noch Beruf oder Aussehen. Nur dass sie in einem Büro arbeitet, wo ihr dann auch ein Zeitungsartikel über das Verbrechen im Jahre 1949 in die Hände fällt. Daran fasziniert sie vor allem eine Kleinigkeit, eine Nebensache eben: „Das alles geschah nämlich an einem Vormittag, der genau ein Vierteljahrhundert später mit dem Vormittag meiner Geburt zusammenfallen sollte.“ Diese „Nebensache“ ist Anlass für ihren Entschluss, mehr über das Beduinenmädchen herauszufinden. Nachdem ein Telefonat mit dem Verfasser des Artikels ergebnislos geblieben ist, macht sie sich mit dem Ausweis einer Freundin, die in einer der Zonen der Westbank lebt, von denen aus die Einreise nach Israel erlaubt ist, und mit dem auf den Namen eines Freundes gemieteten Autos auf den Weg, mit mehreren Landkarten – einer alten aus der Zeit vor der Staatsgründung, Touristen- und aktuelle Straßenkarten. Aber die Orientierung bleibt schwierig; zu viel hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten verändert. Aus Dörfern sind große Städte geworden, neue Mauern, Straßensperren und nicht eingezeichnete Checkpoints erfordern große Umwege. Die Archive, in denen sie sucht, und die Menschen, die sie fragen kann, bieten kaum neue Hinweise auf die Person des Opfers. Und am Ort des Verbrechens selbst stößt sie auf heruntergekommene Beduinensiedlungen und eine streng bewachte Militäranlage …

Das ganze Buch ist meisterhaft komponiert. Obwohl die beiden Teile des Buches nicht nur zeitlich, sondern auch formal voneinander getrennt sind, vor allem durch den Wechsel der Erzählperspektive, gelingt es Shibli fast unbemerkt, immer wieder Verbindungen herzustellen und aufzugreifen, vom Heulen des Hundes über Gerüche bis zu Gewohnheiten. Eine Nebensache ist weit mehr als ein Buch über die Geschichte Israels und die Gegenwärtigkeit der Besetzung, sondern verweist vor allem auf das Fortleben der Vergangenheit in der Gegenwart, und das geht weit über spezifische historische Räume hinaus. Das Zitat vom Klappentext fasst es zusammen: „Man reißt ein Grasbüschel aus und glaubt, man sei das Kraut für immer los, aber nach einem Vierteljahrhundert wächst Gras derselben Art an derselben Stelle wieder nach.“ Dem ist nichts hinzufügen, außer der dringenden Aufforderung: bitte lesen!

Irmgard Hölscher, Frankfurt a.M.