Gräber sind bis auf wenige Ausnahmen im allgemeinen horizontal ausgerichtet. Leichname werden in die Erdkruste, ins Wasser, auf Berggipfel gelegt. Grabsteine dagegen stehen vertikal, desgleichen auch Denkmäler, Pyramiden, Berge, auf die Tote verbracht werden, auch die Flammen, die sich erheben, um Leichname zu verbrennen, die rituell in Flüssen verstreut werden. Das Gedenken an jene, die diese Welt durchschritten, ihre Namen und Daten werden mit ihren Verbindungen im Leben für jeden sichtbar erhöht vermerkt. Gräber schauen zum Himmel auf, Grabsteine dagegen den Menschen ins Gesicht. Um das stille innere Gespräch fortzuführen. Das Behauen von Stein ist ein Gestus von Kultur. Mag der Bestatter ein Rabe sein, es ist der Mensch, der einen Stein am Grab aufstellt. Die konzisen Grabinschriften besagen, solange es Barbaren auf der Welt gibt, kann dem Menschen das Leben genommen werden, um seinen Tod aber bringt ihn niemand. Die Lebenden lesen sie und entwickeln über das Gedenken an die Verstorbenen hinaus auch Ethiken zu ihrem Gedächtnis.
Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, was ein Land, das zum Gedenken an die 1915 in Anatolien ermordeten Armenier bis heute keinen einzigen Stein aufzustellen fähig war, in dem die grundlegendste zivilisatorische Handlung über ein Jahrhundert verweigert blieb, seinem Volk und den in alle Welt versprengten Armeniern bis heute vorenthält.
(Auszug aus Sema Kaygusuz, Abel Vom Raben begraben)