Zum Buch:
Bei einer Segelpartie auf dem Chiemsee wird der Richter a.D. Wilhlem Weitling von einem Unwetter überrascht – genau wie als Sechzehnjähriger vor fünfzig Jahren. Sein Boot, eine sogenannte Chiemseeplätte, bekannt für ihre Anfälligkeit zum Kentern bei bewegter See, verhält sich erwartungsgemäß: es läuft voll und kippt um. Der Richter strampelt und kämpft mit nachlassender Kraft. Als er aus dem Wasser gezogen wird, stellt er fest, dass er wieder in die fünfziger Jahre gerutscht ist und zusieht, wie er selbst als junger Mann gerettet wird. Verblüfft begleitet er diesen durch die nächsten Tage, in einem Schwebezustand zwischen den beiden Existenzen.
Was für ihn anfänglich noch ein erstaunliches Spiel ist – das Wiedersehen mit den Eltern, dem geliebten Großvater, Schulkameraden und Lehrern – , beunruhigt Weitling zunehmend. Immer häufiger geschehen Dinge, die er anders erinnert. Lässt ihn sein Gedächtnis im Stich oder verläuft sein junges Leben auf einmal in anderen Bahnen? Wird er etwa ein ganz Fremder werden? Und was wird aus ihm, dem „Geist“? Am meisten quält ihn die Frage, ob er Astrid, seine Frau, das große Glück seines Lebens, wiedersehen wird.
Während er sich Woche um Woche beim Erwachsenwerden zusieht, wünscht er nichts sehnlicher, als wieder der alte zu sein. Und wer ist er überhaupt? Ist er tot und in einen Zeitspalt gerutscht? Der einzige, zu dem er als Körperloser Kontakt aufnehmen kann, ist der demente Großvater, der an der Schwelle zum Tod steht. Der scheint diesen Zustand zu kennen und nennt ihn „Sommerfrische“. Weitling hofft, dass ein Zurück möglich ist.
„Wilhelm Weitlings Sommerfrische“ ist ein wunderbares Buch. Leichtfüßig, heiter, ironisch und weise. Eine witzige Geschichte, der man gespannt folgt, und eine philosophische Zeitreise mit dem beliebten Thema: „Wer bin ich und wenn ja …“. Auf eine abgeklärte Weise spinnert, thematisiert es Fragen nach unserer Existenz, nach Identität und Erinnerung. Aber auch Parallelwelten und Wurmlöcher hielte der arme Geist für wahr, wenn sie ihm nur die Rückkehr ermöglichten.
Eine Weile fragt man sich gespannt, wie Nadolny einen Ausstieg aus dieser verrückten Konstruktion finden will, der nicht durch Banalität enttäuscht. Dann schlägt der Text eine Volte nach der anderen und entwickelt eine ganz eigene Logik. Das ist – im besten Sinne – gute Lektüre für die Sommerfrische.
Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt