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Autor
Naimark, Norman M.

Stalin und der Genozid

Untertitel
Aus dem Amerikanischen von Kurt Baudisch
Beschreibung

Wann sind Massentötungen, -verschleppungen und -verbannungen als Völkermord zu bezeichnen? Nicht nur der Streit um die Armenierfrage lässt diese Diskussion immer wieder aufleben und zeigt damit, dass die Aktualität der Ereignisse dabei unerheblich ist. Norman M. Naimark beschäftigt sich mit der Frage, ob die Verbrechen der Stalinzeit den Tatbestand des Genozids erfüllen, und kommt zu dem Schluss, es sei höchste Zeit, diesem wichtigen Kapitel einen angemessenen Platz in der Geschichte einzuräumen.

Verlag
Suhrkamp Verlag, 2010
Format
Gebunden
Seiten
156 Seiten
ISBN/EAN
9783518422014
Preis
16,90 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Norman M. Naimark ist Professor für Geschichte am Institut für Osteuropäische Studien der Universität Stanford, Kalifornien und Experte für Osteuropäische und Russische Geschichte. Seine Schwerpunkte in der Forschung liegen auf der sowjetischen Politik in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg und der vergleichenden Geschichte des Völkermords und der ethnischen Säuberungen im 20. Jahrhundert. Zu seinen Büchern gehören: Die Russen in Deutschland (1996) und Flammender Hass (2004).

Zum Buch:

Am 9. Dezember 1948 beschloss die Vollversammlung der Vereinten Nationen die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes. Sie trat am 12. Januar 1951 in Kraft. In dieser Konvention wurde Völkermord zum ersten Mal rechtlich als Straftatbestand definiert.

So kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs war allgemein klar, dass die Verbrechen der Nazis, die weitgehende Vernichtung des jüdischen Volkes als Genozid zu bezeichnen sind. Die Sowjetunion, zum damaligen Zeitpunkt hauptsächlich als das Volk wahrgenommen, das die meisten Kriegsopfer gebracht hatte und ohne das der Krieg kaum hätte gewonnen werden können, war maßgeblich an der Abfassung des Textes der Konvention beteiligt. Die massenhaften Verschleppungen und Tötungen in der SU und den von ihr besetzten Gebieten wurden daher nicht thematisiert.

Am Sinn der Konvention zweifelt heute wohl niemand mehr; ohne sie hätten weder der Völkermord von Ruanda noch das Massaker von Srebeniza verfolgt werden können. Aber schon bei Srebeniza wurde der Tatbestand des Völkermords immer wieder in Zweifel gezogen. Seit dem Untergang der Sowjetunion erließen die nun unabhängig gewordenen baltischen Staaten eigene Gesetze gegen den Völkermord und erweiterten die Definition des Genozids mit dem Ziel, die Verbrechen der Stalinzeit völkerrechtlich aufarbeiten zu können.

Der amerikanische Historiker Norman M. Naimark greift diese Diskussion auf und fragt, wie weit die Verschleppungen und Massentötungen in der Sowjetunion den Tatbestand des Völkermords erfüllen. Er zählt dazu: die „Entkulakisierung“, die absichtlich herbeigeführte Hungersnot in der Ukraine, den Angriff auf ethnische Gruppen und Völker in der SU und auf die Polen sowie den „Großen Terror“. Am Ende fragt er nach der Vergleichbarkeit der Verbrechen Hitlers und Stalins. Weder die Argumente noch die Ergebnisse seiner Überlegungen können hier aufgezeigt werden, dazu sind die Tatbestände zu vielschichtig.

Bleibt die Frage, wozu es gut sein soll, diese weit zurückliegenden Verbrechen nun als Genozid zu bezeichnen. Naimark geht es nicht nur um historische Richtigstellungen. Er hält es für das Selbstverständnis und die Zukunft eines Landes (hier Russland und die ehemaligen Staaten der Sowjetunion) für wichtig, über Umstände und Umfang des Genozids Bescheid zu wissen. Und im Hinblick auf Russland meint er: „Viele Russen schätzen Stalin weiterhin hoch, trotz der Massengräber, in denen ihre Vorfahren ruhen.“ Die Beziehungen zu den umliegenden Völkern, zu Balten, Ukrainern, Polen, Krimtataren u.v.m. könnten sich nachhaltig verbessern, wenn Russland sich der Verbrechen der Vergangenheit stellte.

Das Buch wendet sich nicht an ein Fachpublikum. Es hat nur 140 Seiten Text (der Autor nennt es einen „erweiterten Essay“), ist aber trotz seiner komplexen Thematik verständlich und gut zu lesen – etwas, das nach wie vor nur Engländer und Amerikaner auf unnachahmliche Weise fertig bringen! Und nicht nur bezogen auf die sowjetische Geschichte ist „Stalin und der Genozid“ wichtig, sondern auch für die Frage, wann der Begriff des Genozids inflationär gebraucht wird, um bestimmte Schuldzuweisungen machen zu können, und wann er angebracht ist.

Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co., Frankfurt