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Sie kam mit dem großen Entdecker Christopher Kolumbus und als Folge des frühen Kolonialismus nach Europa: Syphilis, die Liebeskrankheit, über die in den Gesellschaften gleich welcher Nationalität von 1492 bis 1947 am liebsten geschwiegen wurde. Der Sozialpädagoge und Nietzsche-Forscher Niemeyer nimmt Leserinnen und Leser mit auf einen höchst informativen und mit allerlei spitzen Bemerkungen gewürzten Spaziergang durch die literarischen Zeugnisse französischer und deutschsprachiger Schriftsteller, die es wagten, das Schreckgespenst des Fin de Siècle in ihren Werken zu thematisieren, oft mit dramatischen Folgen …
Viele von ihnen waren selbst Syphilitiker, von Honoré de Balzac und Jules de Goncourt über Gustave Flaubert bis zu Friedrich Nietzsche, andere, wie Edmont de Goncourt und Thomas Mann, erlebten und verarbeiteten Einfluss und Folgen der Krankheit in ihren Werken oder reflektierten wie Arthur Schnitzler als studierter Mediziner die zu diesem Zeitpunkt bekannten wissenschaftlichen Hintergründe.
Auf dem 19. und frühen 20. Jahrhundert liegt der Schwerpunkt des Forschungsarbeit Niemeyers, von hier werden die geschichtlichen Fäden in die Zeit der Renaissance gespannt. Zu dem Aufleben der klassischen Ideale in der Renaissance gehörte die Wiedergeburt der Knabenliebe und der Hetären als Kurtisanen an den Höfen und im Klerus. Die gesellschaftliche Geschichte der Syphilis lassen die Schriftsteller des 19. Jahrhunderts in Italien beginnen, wo die Liebeskrankheit 1496 Bologna und Ferrara, wenig später auch Venedig in Besitz nimmt. Bezeichnend, dass man mit der Namensgebung „französische“, „spanische“ oder „italienische“ Krankheit den konkreten Bezug zum Geschlechtsleben verschleierte und die Schuld für den Befall einer ganzen Nation in die Schuhe schob. Unter Hitler – man verzeihe den Zeitsprung, aber die Vielfalt literarischer Beispiele aus dem 19. und Vernetzungen bis ins späte 20. Jahrhundert dürfen selbst goutiert werden – unter Hitler also hatte die weit verbreitete Sypholophobie menschenverachtende Folgen: Der möglicherweise selbst infizierte Diktator lastete die Schuld an der Ansteckung mit der bis 1942 tödlichen Krankheit, die im Ersten Weltkrieg eine weitere große Welle der Verbreitung erfahren hatte, den Juden an. Er lag damit voll im Trend der weit verbreiteten viktorianischen Sexualmoral und des Antisemitismus.
Bis heute wird die Krankheit als Todesursache berühmter Schriftsteller in deren Biografien noch immer nicht benannt, die Sypholophobie wirkt auf gesellschaftlicher Ebene munter weiter.
Susanne Rikl, München