Zum Buch:
In den 1950er Jahren besteigt der elfjährige Michael zum ersten Mal in seinem Leben ein Passagierschiff, das ihn von Ceylon nach London bringen soll. Er ist auf dem Weg zu seiner Mutter, die seit der Trennung von seinem Vater in England lebt. Am sogenannten Katzentisch, der am weitesten vom Kapitänstisch entfernt ist, beobachtet Michael mit dem Gleichmut eines Kindes an der Schwelle zur Pubertät das Panoptikum, das die Passagiere nicht nur an diesem Tisch bieten: ein Hundebetreuer, ein Barpianist, eine Schiffsabwracker, ein Gärtner, eine Taubenliebhaberin und viele weitere skurrile Gestalten. Hier am Katzentisch lernt er auch zwei Gleichaltrige kennen, Cassius und Ramadhin, mit denen er in den folgenden Wochen praktisch unbeobachtet das Schiff erkunden und, getreu der Devise des draufgängerischen Cassius, jeden Tag ein Verbot übertreten wird. Für drei lange Wochen ist die Oronsay ihre Welt, die sie mit einer ungeheuren Intensität in Besitz nehmen. Ob sie Peddigrohr rauchen, sich bei einem Sturm heimlich auf Deck aufhalten, im Rettungsboot picknicken, ein Mädchen beim Rollschuhfahren beobachten, dem charmanten Baron helfen, einen kranken Millionär zu bestehlen, oder aus ihrem Versteck zusehen, wie der „Gefangene“ in Ketten und unter schwerer Bewachung nachts das Schiffsgefängnis verlässt – immer bleiben sie in ihrem kindlichen Universum, in dem die Regeln der Erwachsenenwelt kaum eine Rolle spielen. Michaels heimliche Verbündete und erste große Liebe in diesem Universum ist seine Cousine Emily, die er nach Jahren auf dem Schiff wiedersieht. In ihr findet er einerseits eine tröstende Verbindung zu seiner Heimat und seiner großen Familie, andererseits eröffnet sie ihm mit ihrer flirrenden Schönheit eine neue Welt voll unschuldiger Erotik.
In Katzentisch erzählt Ondaatje von einer Zwischenzeit, einer verzauberten Pause in den Lebensläufen der Protagonisten. Hier entstehen aus Zufallsbegegnungen Bindungen, die einem ganzen Leben eine andere Richtung geben. Der Hintergrund der in Vor- und Rückblenden erzählten – und durchaus nicht glücklichen – Lebensgeschichten der drei Freunde und Emilys verleiht dieser Zwischenzeit ihre Leuchtkraft – nicht als Rückgriff auf nostalgisch verklärte Kindheitsabenteuer, sondern als Sehnsucht nach der Offenheit, der Intensität und der Wahrheit echten Lebens.
Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main