Zum Buch:
Hatte ihr Vater nicht prophezeit: „Schafft es der Feind bis ins Dorf, bringt er alle um“? Zur eigenen Sicherheit vernichtet Martha alles, was sie als überzeugte NS-Anhängerin entlarven könnte, und verlässt in den ersten Wochen nach Kriegsende das elterliche Haus so selten wie möglich. Die Sieger aber nehmen keine Rache, ganz im Gegenteil: Sie schenken Kindern Kaugummis und versuchen junge Menschen wie Martha in politischen Umerziehungskursen, sogenannten ‚Demokratiestunden’, von der Falschheit des nationalsozialistischen Denkens zu überzeugen. Sie werben für Demokratie.
Martha traut all dem nicht, hat sie sich doch nie unfrei gefühlt. Ebenso wenig sieht sie sich als Angehörige einer verführten Jugend an, denn sie war immer „voll und ganz einverstanden gewesen mit dem Regime und seinen Großtaten“. Martha ist orientierungslos. „Die Zeit schien auf der Stelle zu treten, es gab weder Vergangenheit noch Zukunft. Es gab nur die immer gleiche Gegenwart der Besatzung und die Straferwartung.“ In Nächten voller Angst schmiedet Martha einen Plan, um dem Strafgericht zu entgehen: Sie will so schnell es geht ein Kind bekommen. So heiratet sie völlig überstürzt Paule, einen Flüchtling aus „den verlorenen Ostgebieten des Reiches“, den sie fast nicht kennt. Mit 22 Jahren ist Martha Mutter von zwei Söhnen und fühlt sich als solche einigermaßen sicher „vor der Rache der Sieger“.
Kurt Oesterles Roman beginnt mit der sogenannten Stunde Null. Er spannt den Erzählbogen von der Besatzungszeit bis zum staatlichen Wiederaufbau mit der zweiten freien Wahl in der BRD 1953. Unaufgeregt, mit distanziertem Ton, aber auch mit großer Empathie für die Menschen, zeichnet er den schwierigen Übergang von der NS-Zeit zur Gründung der Demokratie nach. Er schildert in klaren Worten menschliche Verheerungen, die zwölf Jahre Diktatur hinterlassen haben. In den Details der Familiengeschichte von Martha, Paule und ihren beiden Söhne Alfred und Helmut leuchtet Oesterle gesellschaftliche Seelenzustände in dieser für Deutschland entscheidenden Politik- und Zeitenwende aus. Nachvollziehbar und überzeugend weist er auf Traumata hin und macht deutlich, wie schwierig ihre Verarbeitung und Überwindung sein kann.
Ralph Wagner, Ypsilon Buchladen & Café, Frankfurt