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Autor
Peroutka, Ferdinand

Wolke und Walzer

Untertitel
Roman. Aus dem Tschechischen von Mira Sonnenschein
Beschreibung

Im Warteraum der Gestapo denkt Doktor Pokorný nach seiner Verhaftung darüber nach, dass später Schriftsteller noch lange über diese Zeit schreiben werden: „Vieles werden sie anhand von Fotos erfahren, die Details werden ihnen aber fehlen. Sie werden nicht wissen, dass ein Hahn krähte, als für einen Menschen der letzte Moment kam. Werden auch nicht wissen, dass es im Konzentrationslager von früh bis abends nach vergorenen Kohlrüben roch und im Warteraum der Gestapo stank.“ Ferdinand Peroutka kennt diese Details, über die sein Protagonist an dieser Stelle nachdenkt, aus eigener Erfahrung – und es gelingt ihm, sie an seine Leser weiterzugeben.

Ursprünglich war „Wolke und Walzer“ ein Drama, das Peroutka in der Zeit des Protektorats verfasst hatte. Nach dem Krieg wurde es im Nationaltheater uraufgeführt. Peroutka überarbeitete das Drama zu einem Roman, der 1976 zum ersten Mal erschien. Jetzt liegt Peroutkas Roman in deutscher Übersetzung vor.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Elfenbein Verlag, 2015
Format
Gebunden
Seiten
376 Seiten
ISBN/EAN
9783941184329
Preis
22,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Ferdinand Peroutka (1895 – 1978) arbeitete als Journalist seit den zwanziger Jahren für demokratische Tageszeitungen in Prag. Nach der deutschen Besetzung 1939 wurde er in Schutzhaft genommen und nach Buchenwald gebracht. 1945 führte er als überzeugter Demokrat seine journalistische Arbeit fort. Den Zweiten Weltkrieg verarbeitete er in dem Drama Wolke und Walzer ( Oblak a valcík ), das 1947 in Prag uraufgeführt wurde. Um einer Verhaftung nach dem kommunistischen Putsch ging er ins Exil – Nach dem politischen Umsturz 1948 ging er ins Exil – zunächst nach München, wo er Radio Free Europe mitbegründete, und ab Mitte der 50er Jahre nach New York. Dort lebte bis zu seinem Tod.

Zum Buch:

Im Warteraum der Gestapo denkt Doktor Pokorný nach seiner Verhaftung darüber nach, dass später Schriftsteller noch lange über diese Zeit schreiben werden: „Vieles werden sie anhand von Fotos erfahren, die Details werden ihnen aber fehlen. Sie werden nicht wissen, dass ein Hahn krähte, als für einen Menschen der letzte Moment kam. Werden auch nicht wissen, dass es im Konzentrationslager von früh bis abends nach vergorenen Kohlrüben roch und im Warteraum der Gestapo stank.“ Ferdinand Peroutka kennt diese Details, über die sein Protagonist an dieser Stelle nachdenkt, aus eigener Erfahrung – und es gelingt ihm, sie an seine Leser weiterzugeben.

Ursprünglich war „Wolke und Walzer“ ein Drama, das Peroutka in der Zeit des Protektorats verfasst hatte. Nach dem Krieg wurde es im Nationaltheater uraufgeführt. Peroutka überarbeitete das Drama zu einem Roman, der 1976 zum ersten Mal erschien. Jetzt liegt Peroutkas Roman in deutscher Übersetzung vor.
Im Zentrum stehen politische Ereignisse und ihre Folgen für das Leben der Menschen in Prag vom Beginn des Protektorats bis zum Kriegsende, aber es gibt auch Ausblicke auf die Auswirkungen der Geschehnisse in der Nachkriegszeit. Die einzelnen Szenen bestehen oft nur aus wenigen Seiten, sind aber so dicht und lebendig, dass jede von ihnen Ausgangspunkt für einen weiteren Roman sein könnte. Peroutkas Geschichten verbinden sich immer mehr zu einer Geschichte, der man trotz der Unfassbarkeit des Geschilderten gerne folgt, in die man eintaucht.

Manche Erzählstränge werden mit Unterbrechungen immer wieder aufgenommen und beleuchten Charaktere wie den Prager Bankangestellten Novotný durch die verschiedenen Entwicklungen der Zeit, andere Szenen werfen nur ein kurzes Licht auf einen Charakter. Auch historische Gestalten erscheinen auf der Bildfläche – so wird zum Beispiel ein Tag im Leben des jungen Adolf Hitler geschildert, der als armer Maler im Armenasyl unterkommt, die Weiße Rose, Hitler im Führerbunker kurz vor Kriegsende und Adolf Eichmann bei seinem Prozess.

Zunächst stehen aber Prag und seine Bewohner im Mittelpunkt. Der Fokus verschiebt sich jedoch mit den Veränderungen, die die Besetzung der Deutschen und der Krieg mit sich bringen. So folgt ein Erzählstrang dem tschechischen Bankangestellten Novotný ins Konzentrationslager. Sein Kollege Kraus erfährt im selben Konzentrationslager als Jude eine weitaus härtere Behandlung. Novotný hingegen gelingt es, sich nach einiger Zeit in den harten Lebensbedingungen des Lagers einzurichten, und als Mensch, der die Gemütlichkeit schätzt, vermag er sogar in dem trostlosen Lagerleben gemütliche Momente zu finden. Doktor Pokorný wiederum schließt sich einer Widerstandsgruppe an – oder wird vielmehr von ihr aufgenommen. Subtil zeigt Peroutka, dass Pokorný das nicht allein aus Heldenhaftigkeit tut. Nach einem Tapferkeitsversprechen, das er selbst beinahe nur als Phrase aufgefasst hätte, fühlt er sich seinen Mitmenschen und auch sich selbst verpflichtet, Taten folgen zu lassen. Diese Verkettung von Umständen und Zufällen durchzieht den gesamten Roman. Der Leser wird immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass die Motive für die verschiedenen Verhaltensweisen der Menschen in einer so wirren Zeit nicht eindeutig als Heldenhaftigkeit und Edelmut oder Eigennutz und Boshaftigkeit zu bezeichnen sind. Sie bestehen, so scheint es nach der Lektüre des Romans, vielmehr aus einer komplexen Mischung, die ihre Ursprünge in der Geschichte der Menschen und ihren Lebenskontexten haben.

Tief traurig, abstoßend und brutal sind die dargestellten Lagerszenen. Beinahe verstörender aber als die Schilderungen der grausamen Umstände sind die Fragen, die sich der Leser bei der Lektüre ständig selbst stellen muss: „Und wo wärst du in dieser Situation? Auf welcher Seite würdest du stehen?“ Diese Fragen ehrlich zu bedenken – geschweige denn, sie zu beantworten – ist eine kaum lösbare Aufgabe, der sich der Leser aber nicht entziehen kann.

Ferdinand Peroutka (1895-1978) war Journalist, Kritiker und Autor. Früh begann er Artikel in Zeitschriften zu publizieren und wurde Redakteur und Herausgeber demokratischer Zeitschriften. Sein kritischer Geist wurde von Masaryks geschätzt. Von 1939 bis zum Kriegsende war Peroutka in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Buchenwald inhaftiert. Nach dem Krieg arbeitete er wieder als Redakteur und war Abgeordneter in Masaryks Volkssozialistischer Partei. Nach dem politischen Umsturz 1948 ging er ins Exil – zunächst nach München, wo er Radio Free Europe mitbegründete, und ab Mitte der 50er Jahre nach New York. Dort lebte bis zu seinem Tod.

Das Buch „Wolke und Walzer“ wird – „statt eines Nachworts“ – abgeschlossen mit Auszügen aus Ferdinand Peroutkas Tagebuch vom April/Mai 1945. Die Aufzeichnungen lassen eine enge Verbindung zwischen Peroutkas Erfahrungen im Lager und denen seines Protagonisten Novotnýs erkennen. Besonders deutlich wird hier einmal mehr der Impetus des Projekts, das Peroutka mit „Wolke und Walzer“ verfolgt hat: Berichten, was geschehen ist, um zu verhindern, dass so etwas noch einmal geschieht.

Alena Heinritz, Mainz