Zum Buch:
Als sie den Gang mit den vielen Türen rechts und links betritt, schlägt ihr der bittere Geruch von zerkochtem Kohl, Urin und Fäkalien wie eine harte Faust entgegen. Es ist dunkel hier, eisig kalt, und obwohl im Babyhaus Nr. 10 über sechzig Kinder zwischen null und fünf Jahren untergebracht sein sollen, ist alles leer, die meisten Türen verriegelt, auch hört sie weder Schreien noch Weinen oder Lachen. »Dieser Ort wirkte nicht wie die Heimat glucksender Babys und glücklicher Kinder, sondern wie eine Endstation.«
Die Britin Sarah Philps lernte den damals 4 Jahre alten Wanja rein zufällig kennen, als sie im Herbst 1994 zusammen mit ihrem Mann, dem Zeitungskorrespondenten Alan Philps, in Moskau lebte. Da auch sie perfekt russisch sprach, fand sie einen ehrenamtlichen Job als Dolmetscherin bei der Fürsorgegruppe des International Womens Club. Und eines Tages begleitete sie eine der Frauen bei einem Besuch im Babyhaus Nr. 10. Einem der vielen Waisenhäuser rund um Moskau.
In dem Raum stehen Laufställe und Bettchen für mindestens ein Dutzend verwahrloste, abgemagerte Jungen und Mädchen in viel zu dünnen Kleidern. Die Wände sind völlig kahl. Kaputtes Spielzeug ist über den nackten Fußboden verstreut, an einem Schreibtisch sitzt eine Betreuerin im grauen Kittel und schreibt in ein großes Buch. Als sie die beiden Frauen endlich bemerkt, schaut sie nur einmal kurz auf. Ihr Gesichtsausdruck wirkt abgekämpft, verbittert. Dann widmet sie sich erst einmal wieder ihrem Buch.
Ein wenig später. Als Sarahs Begleiterin die mitgebrachte Keksdose öffnet, stürzen sich die Kinder, die laufen können, wie ausgehungert auf sie.
»Sie sind oligophren, alle«, sagt die Betreuerin.
Sarah fragt nach, was das Wort bedeutet. »Geistig zurückgeblieben«, bekommt sie zur Antwort.
Da bemerkt sie einen etwa vierjährigen Jungen in einem Laufstall, der sie aus aufgeweckten Augen wie gebannt anstarrt. Eine ungewöhnliche Freundschaft nimmt ihren Anfang, und als Wanja, der wie die anderen Kinder niemals das Haus verlassen hat, der nicht weiß, was die Sonne ist, was ein Auto, schließlich in eine geschlossene Heilanstalt abgeschoben wird, setzt die junge Frau alle Hebel in Bewegung, um ihn aus dieser Hölle zu befreien.
Zugegeben, der Text von Alan Philps, in Zusammenarbeit mit dem heute in Amerika unter dem Namen John Lahutsky lebenden Wanja, geht einem schon ziemlich nahe, ohne dass er dabei zu sehr auf die Tränendrüse drückt.
Man wird als Leser wieder und wieder mit der völlig inhumanen, ja brutalen Wirklichkeit konfrontiert, die sich hinter den dicken Mauern russischer Kinderheime abspielt. Die Beschreibungen der unvorstellbaren Bedingungen, unter denen die Kinder ihr meist kurzes Leben fristen, hinterlassen ein Gefühl tiefster Wut, die auch noch lange nach der letzten Seite anhält.
Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln