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Autor
Guez, Olivier

Heimkehr der Unerwünschten

Untertitel
Eine Geschichte der Juden in Deutschland nach 1945. Aus dem Französischen von Helmut Reuter
Beschreibung

Deutschland 1945. Von mehr als 600.000 Juden, die vor 1933 hier lebten, hatten nach den Jahren der Verfolgung und Vernichtung lediglich 14.000 überlebt. Und von denen wollte kaum einer bleiben. Heute hat allein die jüdische Gemeinde von Berlin wieder 100.000 Mitglieder, und jüdisches Leben ist überall in Deutschland sichtbar. Olivier Guez hat die Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis in die Gegenwart aufgezeichnet und damit der Nachkriegsgeschichte, die man doch weitgehend zu kennen glaubt, ein wichtiges Kapitel hinzugefügt.

Verlag
Piper Verlag, 2011
Format
Gebunden
Seiten
409 Seiten
ISBN/EAN
9783492052627
Preis
22,95 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Olivier Guez, geboren 1974 in Straßburg, schreibt als Journalist u. a. für Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Tages-Anzeiger, Le Monde, L’Histoire und Politique Internationale. Von 2005 bis 2009 lebte er in Berlin. In dieser Zeit entstanden die Bücher »Die Mauer fällt« und »Heimkehr der Unerwünschten«. Heute lebt und arbeitet Olivier Guez in Paris.

Zum Buch:

Als halbwegs zeitgeschichtlich interessierter Mensch – so dachte ich mir – weiß man doch, wie es gewesen ist im Nachkriegsdeutschland: Zerstörung, Wiederaufbau, Wirtschaftswunder, 1968 und die Folgen, Wiedervereinigung, auch mit Folgen. Darin die Deutschen. Ihre Wunden leckend, alle Schuld abwehrend, vergessen wollend. Und als ewiger Stachel im Fleisch die kleine Gruppe der Juden, die Verfolgung und Vernichtung überlebt hatten. Die hier geblieben oder hier gestrandet waren oder zurückkehrten aus dem Exil. Und irgendwann konnten die Deutschen sich um ihre Vergangenheit nicht mehr herum drücken. Ihre Kinder rückten ihnen mit Fragen auf den Leib, was sie, die Elterngeneration, denn in den glorreichen Jahren des Dritten Reichs und mit ihren jüdischen Mitbürgern gemacht hätten.

Wie viel man doch nicht weiß von der Geschichte der Juden in Deutschland nach 1945, das merkt man bei der Lektüre von Olivier Guez “Heimkehr der Unerwünschten” das im Original “Die unmögliche Rückkehr” heißt. Der Journalist ist der Frage nachgegangen, warum Juden nach Kriegsende nicht auf schnellstem Wege das Land verlassen haben, warum sie blieben, ja, warum viele von ihnen sogar wieder in das Land der Mörder zurückkehrten.

Guez hat viele Interviews geführt. Mit Auschwitz-Überlebenden, mit Menschen, die als Displaced Persons hier gestrandet waren und nicht die Kraft besaßen, woanders hin zu gehen, mit Exilanten, die nach dem Krieg wiederkamen, und mit solchen, die im Exil geblieben waren. Mit denen, die direkt nach dem Krieg geboren wurden und das Täterland verließen, um doch wieder zurückzukehren, und mit jungen Juden, die nach der Wiedervereinigung aus dem ehemaligen Ostblock einwanderten. Er hat mit den üblichen Prominenten – Lustiger, Brumlik, Honigmann, Cohn-Bendit, Peter Gay u.v.m. – gesprochen, aber auch mit vielen Unbekannten.

Das Buch ist für den französischen Markt geschrieben, und manches mag dem informierten Leser hier zu ausführlich vorkommen. Aber es gibt unglaublich viel zu entdecken an dieser Geschichte, Neues oder nur oberflächlich Bekanntes. Zum Beispiel über das Leben der Juden in der DDR, über die feinen Unterschiede, die es machte, ob zurückkehrende Exilanten aus dem westlichen Ausland kamen oder die Jahre der Verfolgung in der Sowjetunion verbracht hatten – es sei denn, man zählte zu den wenigen, die der Staat für sich als nützlich ansah und die zumeist ihren Widerstand zum NS-Regime in den Vordergrund stellten und nicht ihr Judentum. Oder dass der Staatsrat der maroden DDR Ende der achtziger Jahre anfing, die paar verbliebenen Juden im Land zu hofieren, weil er sich davon eine bessere Reputation (und tendenziell finanzielle Unterstützung) im westlichen Ausland erhoffte.

Offensichtlich sind nur die Großstädte und hier besonders Berlin, die Stadt, in der die meisten Nationalitäten leben, die auf Schritt und Tritt an den Schrecken, aber auch an die glanzvollen Zeiten jüdischen Lebens erinnert, die Orte, an denen es für Juden der Jetztzeit eine Art selbstverständlicher Normalität gibt. Aber dem Leser wird auch klar, wie zerbrechlich diese Normalität immer noch ist. Und spätestens nach der Wiedervereinigung und dem Fahnenrausch der Fußball-WM ist deutlich, dass diese Normalität so lange bedroht ist, so lange jede Form von gesellschaftlichem Vergessen der Vergangenheit, jedes Loslassen der Schuld bedeutet, dass die alten Gespenster sich wieder erheben könnten. Daher stimmt es froh, dass die letzten Sätze des Ausblicks, den Guez auf die Zukunft des jüdischen Lebens in Deutschland gibt, lauten: “Die Unmögliche Rückkehr? Sie ist in vollem Gang.”

Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co., Frankfurt