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Autor
Phillips, Julia

Das Verschwinden der Erde

Untertitel
Roman. Aus dem Amerikanischen von Pociao und Roberto de Hollanda
Beschreibung

Kamtschatka: Zwei Mädchen verschwinden. Aljona und Sofija haben allein am Strand gespielt, bevor sie dann – angeblich – in das Auto eines Mannes gestiegen sind. Ihre alleinerziehende Mutter, die es nicht geschafft hat, während ihrer Arbeit auf die Kinder aufzupassen, versinkt in Schuldgefühlen und gibt nicht auf, nach ihren Kindern zu suchen. Aber sie ist nicht die einzige, deren Leben sich durch das Geschehen radikal verändert: die ganze Stadt gerät durch das Verschwinden der Kinder in Aufruhr.

Der Roman Das Verschwinden der Erde ist die spannende Geschichte einer Gemeinschaft, deren Krise, aber auch deren Stärke durch das Verschwinden der Kinder zum Vorschein kommt. Die US-amerikanische Schriftstellerin Julia Phillip feierte mit ihrem Debütroman 2019 zu Recht einen großen Erfolg.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
dtv Verlagsgesellschaft, 2021
Format
Gebunden
Seiten
376 Seiten
ISBN/EAN
978-3-423-28258-1
Preis
22,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Julia Phillips, geboren 1988, lebt in Brooklyn, New York. ›Das Verschwinden der Erde‹ ist ihr erster Roman. Er stand auf der Shortlist des National Book Award 2019 und erscheint in 25 Ländern.

Zum Buch:

Kamtschatka: Zwei Mädchen verschwinden. Aljona und Sofija haben allein am Strand gespielt, bevor sie dann – angeblich – in das Auto eines Mannes gestiegen sind. Ihre alleinerziehende Mutter, die es nicht geschafft hat, während ihrer Arbeit auf die Kinder aufzupassen, versinkt in Schuldgefühlen und gibt nicht auf, nach ihren Kindern zu suchen. Aber sie ist nicht die einzige, deren Leben sich durch das Geschehen radikal verändert: die ganze Stadt gerät durch das Verschwinden der Kinder in Aufruhr, und die Auswirkungen zeigen sich auch in den Dörfern außerhalb. Der Roman Das Verschwinden der Erde ist die spannende Geschichte einer Gemeinschaft, deren Krise, aber auch deren Stärke durch das Verschwinden der Kinder zum Vorschein kommt. Die US-amerikanische Schriftstellerin Julia Phillip feierte mit ihrem Debütroman 2019 zu Recht einen großen Erfolg.

Es sind besonders die Frauen, die das Verschwinden der Kinder zum Anlass nehmen, über ihre Situation als Frauen in einer von Männern dominierten Gesellschaft zu reflektieren. Jedes Kapitel des Romans wird aus der Perspektive einer anderen Frau erzählt. Zugleich gibt es eine Zeitstruktur: Jedes Kapitel ist mit einem Monat überschrieben; insgesamt umfasst das Buch ein Jahr ab dem Verschwinden der Mädchen. Die Frauen berichten von der Abhängigkeit von Freunden, Ehemännern, bissigen Müttern, von Überforderung durch Beruf und Kinderbetreuung, aber auch von kleinen Freuden und – vor allem – kleinen Momenten der Freiheit. Schauplätze der Handlung sind die Hauptstadt Kamtschatkas, Petropawlowsk, und das Dorf Esso. Dort ist vor einiger Zeit schon einmal ein Mädchen verschwunden. Hängen beide Fälle zusammen? Die Polizei bestreitet dies, andere wiederum sehen einen Zusammenhang.

Ksuscha, die aus einer Nomadenfamilie aus der Volksgruppe der Ewenen stammt, studiert als erste ihrer Familie in Petropawlowsk. Ihr eifersüchtiger Freund Ruslan aus ihrem Heimatdort Esso verlangt von ihr beinahe minütlich Nachrichten, weil er keine Ruhe findet, wenn er keine Kontrolle über sie hat und sich nicht durch die Hintergrundgeräusche beim Telefonieren davon überzeugen kann, dass sie zu Hause ist. Es ist furchtbar zu lesen, wie Nadja, die sich von ihrem Freund trennen will, schließlich mit ihrer kleinen Tochter zu ihm zurückgeht, weil sie ihre zänkische Mutter nicht mehr erträgt und einfach nicht weiß, wohin sie sonst gehen könnte. Manche der Frauen ziehen sich zurück, um möglichst unsichtbar zu werden, andere suchen sich kleine Freiheiten, trotz der Gewissheit, dass die nur kurz währen können. Wieder andere Protagonistinnen reagieren auf ihr Ausgeliefertsein mit destruktivem Aktionismus, um dem Schrecken, der allzeit droht, zuvor zu kommen. Das Interessanteste an der Erzählstruktur aber ist: diese Frauen sind keine Heldinnen oder Märtyrerinnen, sie werden facettenreich beschrieben, und es wird deutlich, dass sie nicht einfach nur Opfer sind, sondern durchaus Teil des Systems und ihren Beitrag dazu leisten, es am Laufen zu halten.

Julia Phillips ist eine US-amerikanische Autorin, die nach Kamtschatka reiste und dort für ihren Roman recherchierte. Man mag sich natürlich die Frage stellen, ob sie, als Außenstehende, die von außen auf Kamtschatka blickt, die Situation dort wirklich gut nachvollziehen kann. Fest steht jedoch, dass es ihr außergewöhnlich gut gelungen ist, eine Atmosphäre der Bedrohung und der Enge zu beschreiben. Dass das Verschwinden der Kinder kein Einzelfall ist, wird schnell klar. Es geht hier um eine strukturelle Form der Gewalt, die die ganze Gesellschaft durchzieht und die sich speziell gegen Frauen, gegen die indigene Bevölkerung in Kamtschatka und gegen Kinder richtet. Diese sind zwar nicht (immer) körperlicher Gewalt ausgesetzt; es geht hier vielmehr um eine Gewalt, die nicht körperlich ist, aber jederzeit in körperliche Gewalt umschlagen könnte, und alle wissen, dass niemand, käme es dazu, helfen würde – denn alle sind daran gewöhnt.

Zuletzt aber – so viel sei verraten – endet das Buch doch optimistisch mit einem Verweis auf die Kraft der Solidarität, die sich Diskriminierungsstrukturen widersetzt und auf das Erinnern der Verschwundenen beharrt. Das Nicht-Vergessen ist hier ein wichtiges Thema, und es entwickelt seine Kraft besonders in den Geschichten, die sich die Menschen erzählen. Deutlich wird dies zum Beispiel an der Geschichte vom Verschwinden einer ganzen Siedlung im Meer, die Aljona ihrer kleinen Schwester Sofija erzählt. Solange erinnert und nicht aufgegeben wird, ist noch Hoffnung, sagt das Buch. Es ist kein literarisch anspruchsvolles Buch, aber es gelingt Phillips auf unheimliche Weise, eine Atmosphäre der Bedrohung zu beschwören. Das ist kein Spaß – aber ein lesenswertes Buch.

Alena Heinritz, Innsbruck