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Autor
Reza, Yasmina

Serge

Untertitel
Roman. Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Ungekürzte Lesung. Sprecher: Peter Jordan
Beschreibung

In Serge, dem neuen Roman der erfolgreichen französischen Theater- und Romanautorin Yasmina Reza, steht eine in Paris lebende jüdische Familie österreichisch-ungarischer Abstammung im Mittelpunkt. Die Hauptpersonen sind drei Geschwister: Serge, Jean und Nana – alle bereits in der zweiten Lebenshälfte. Serge, der Älteste, ist ein ewiger Schlawiner, Jean, der Mittlere, als einziger mit einem soliden Beruf und stets auf Vermittlung bedacht, sowie Nana, früher das Prinzesschen, die in den Augen der Brüder leider den falschen Mann geheiratet hat. Ihre jüdische Abstammung und alles, was mit den ungarischen Vorfahren der Mutter im Holocaust geschehen ist, war nie Thema in der Familie. Daher überrascht es alle, als Joséphine, Serges Tochter, nach dem Tod ihrer Großmutter verkündet, nach Auschwitz fahren zu wollen.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Hörbuch Hamburg, 2022
Format
5 Cds, Laufzeit 325 Minuten
Seiten
0 Seiten
ISBN/EAN
978-3-95713-270-3
Preis
22,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Yasmina Reza, 1959 geboren, ist Schriftstellerin, Regisseurin und Schauspielerin und die meistgespielte zeitgenössische Theaterautorin. Bei Hanser erschienen u.a. Glücklich die Glücklichen (Roman, 2014), Babylon (Roman, 2017), für den sie mit dem Prix Renaudot 2016 ausgezeichnet wurde, Kunst (Schauspiel, 2018), Der Gott des Gemetzels (Schauspiel, 2018), Bella Figura (Schauspiel, 2019), Drei Mal Leben (Schauspiel, 2019), Anne-Marie die Schönheit (2019) und Serge (Roman, 2022). Für ihr Werk wurde sie zuletzt mit dem Jonathan-Swift-Preis 2020 und dem Premio Malaparte 2021 ausgezeichnet. Das Theaterstück Der Gott des Gemetzels wurde 2011 sehr erfolgreich von Roman Polanski verfilmt, hochkarätig besetzt mit Jodie Foster, Kate Winslet, Christoph Waltz und John C. Reilly.

Zum Buch:

Herkunft und Familie – ewig währende Themen, die in immer neuen Konstellationen und Variationen den Hintergrund, wenn nicht das Zentrum der meisten literarischen Werke der schönen Literatur bilden. So auch in Serge, dem neuen Roman der erfolgreichen französischen Theater- und Romanautorin Yasmina Reza. Hier ist es die in Paris lebende jüdische Familie Popper. Im Mittelpunkt stehen die drei Geschwister Serge, Jean und Nana, alle bereits in der zweiten Lebenshälfte: Serge, der Älteste, großmäulig, ein ewiger Schlawiner, der, zumeist glücklos, Zeit und Geld in windige Geschäfte investiert; Jean, ein Leben lang nichts weiter als das mittlere Kind, ist bis zur Unkenntlichkeit der eigenen Meinung auf Ausgleich bedacht. Und Nana, die jüngste, einst das hübsche Prinzesschen, hat dann leider keinen Zahnarzt geheiratet, sondern den aus dem Arbeitermilieu stammenden Ramos Ochoa, dem die Brüder unterstellen, sich Arbeitslosenhilfe zu ergaunern. Bis auf kurze sentimentale Anwandlungen sind die drei einander in hingebungsvollem, von Serge immer wieder entfachtem Dauergezänk verbunden.

Der Text beginnt mit dem Tod der alten Mutter, die zum Entsetzen aller darauf bestanden hat, sich einäschern zu lassen. Als die Familie nach einem trübseligen Begräbnis zusammen im Café sitzt, verkündet Joséphine, Serges Tochter, dass sie nach Auschwitz fahren will, den Ort, nach dem niemand in der Familie die Mutter, deren Angehörige dort ermordet wurden, jemals gefragt hat.

Im darauf folgenden April machen sich Serge, Jean, Nana und Joséphine auf den Weg nach Polen. Bei einem für April unnatürlich heißen Wetter schleppen sie sich durch diesen von Touristenmassen überschwemmten Schreckensort, an dem auf Schritt und Tritt mit dem Appell, nie zu vergessen, das Erinnern beschworen wird. Das Erinnern misslingt, weil keiner der drei sich auf diesen Ort einlassen kann oder will. Serge lässt räsonierend niemanden im Zweifel, dass er eigentlich woanders sein will. Nana sucht verwirrt hektisch in einer Datenbank nach Spuren ihrer ungarischen Vorfahren und Jean bringt auf den Punkt, warum ihm das Erinnern nicht möglich ist: “Vergesst nicht! Aber warum? Um es nicht wieder zu tun? Aber du wirst es wieder tun. Ein Wissen, das nicht zutiefst mit einem selbst verbunden ist, bleibt folgenlos.”

Dieser Roman ist eine Farce, die Yasmina Reza in einer fragilen Balance zwischen Komik und Bösartigkeit hält. Sie verwendet nicht viel Zeit darauf, Verhaltensweisen psychologisch oder historisch herzuleiten. Alles erschließt sich bei ihr durch präzise Schilderungen und bissige Dialoge – sie ist nicht umsonst eine erfolgreiche Dramatikerin. Manches Lachen bleibt im Halse stecken. Da sich bei den Personen Wut und Trauer zumeist in Selbstmitleid äußern, hält sich auch die Empathie mit ihnen in Grenzen. All das zu lesen, wäre schwer auszuhalten, wäre da nicht zugleich der unterirdische Strom von Hilflosigkeit, Verletztheit, Einsamkeit und – man glaubt es bei dem ständigen Redefluss kaum – Sprachlosigkeit. Denn die überbordende, immer um sich selbst kreisende Kakophonie der Geschwister hat nur eine Funktion: Gefühle zu verdrängen und das Versteckte, nicht Sagbare, das die Familie mit sich herumschleppt, zu überdecken. Erst ganz am Schluss kehrt angesichts eines realen Unglücks doch so etwas wie Frieden zwischen den Geschwistern ein – ganz ohne Kitsch und Sentimentalität.

Ruth Roebke, Frankfurt a. M.