Belletristik

Drucken

Buchempfehlung Belletristik

Autor
Figes, Orlando

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne

Untertitel
Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter
Beschreibung

Nur kurz nachdem Lew und Swetlana sich kennen gelernt hatten, überfiel Hitler die Sowjetunion, und Lew musste in den Krieg ziehen. Die Deutschen nahmen ihn gefangen, und zwangen ihn, Dolmetscherdienste zu leisten. Nach der Befreiung wurde er deshalb in seiner Heimat wegen Hochverrat angeklagt und für 10 Jahre in ein Arbeitslager nach Sibirien verbannt. 1500 Briefe haben sich Swetlana und Lew während dieser Jahre geschrieben. Sie sind die Grundlage des Buches „Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne“, in dem Orlando Figes die Geschichte der beiden in diesen Jahren erzählt. Und wieder ist ihm nach seinem großen Buch „Die Flüsterer“ ein beeindruckendes Zeugnis aus Stalins Terrorzeit gelungen.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Hanser Berlin, 2012
Format
Gebunden
Seiten
384 Seiten
ISBN/EAN
9783446240315
Preis
24,90 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Orlando Figes lehrt Geschichte am Birkbeck College in London und zählt zu den herausragenden Russland-Historikern unserer Zeit. Zuletzt erschienen von ihm Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland (2008) und Krimkrieg. Der letzte Kreuzzug (2011).

Zum Buch:

1945, gleich nach Ende des 2. Weltkriegs, kehrt Lew Mischtschenko aus deutscher Kriegsgefangenschaft in die Sowjetunion zurück. Dort wird er sogleich wegen Hochverrat angeklagt und für 10 Jahre in das sibirische Arbeitslager Petschora verbannt. 1500 Briefe haben Lew und Swetlana Iwanowa, seine große Liebe, die er 1935 während des Physikstudiums kennen gelernt hatte, einander in den 14 Jahren der Trennung geschrieben. Zum Ende ihres Lebens haben sie den gesamten Briefwechsel sowie diverse Fotografien und Dokumente der Menschenrechtsorganisation Memorial vermacht.

Memorial besitzt ein großes Archiv mit Briefen aus dem Gulag, aber der „Mischtschenko-Iwanowa-Briefwechsel“ ist darunter eine große Ausnahme. Nicht nur, weil die Beziehung von Lew und Swetlana, was selten genug war, all diese Jahre überdauerte und es deshalb eine große Zahl von Briefen gibt, es gelang ihnen mit Hilfe einiger mutiger Menschen auch, ihre Briefe an der Zensur vorbei zu schmuggeln. So ist dieser Briefwechsel nicht nur das berührende Zeugnis einer großen, unverbrüchlichen Liebe, die unter schwierigsten Bedingungen überdauerte, sondern gibt darüber hinaus ein genaues Bild von den Lebens- und Arbeitsbedingen in einem der härtesten Lager der Sowjetunion auf der einen und auf der anderen Seite vom normalen Leben und Arbeiten in Moskau in den 40er und 50er Jahren unter Stalin.

Die Lager waren ein bedeutender Wirtschaftsfaktor im sowjetischen System. Die Häftlinge in Sibirien erschlossen dort die großen Rohstoffvorkommen und verlegten die Eisenbahngleise, über die sie abtransportiert werden konnten. Obwohl die Arbeitskräfte dringend benötigt wurden, herrschten in den Lagern Willkür und Brutalität des Wachpersonals, Bestechlichkeit und irrsinnige Arbeitsbedingungen. Nichterfüllung des Plansolls, zumeist durch schlechte Organisation oder Diebstahl verschuldet, wurde mit Herabsetzung der sowieso schon knappen Nahrungsmittelrationen geahndet, was die Zwangsarbeiter zusätzlich schwächte. Vergünstigungen waren nur durch Schmiergeld zu erreichen, Besuchserlaubnisse wurden selten erteilt und unterlagen willkürlichen Bedingungen. Trotzdem gelang es Swetlana, Lew mehrmals – illegal – in Petschora zu besuchen. Manchmal nur für eine Stunde unter Bewachung, manchmal für ein paar Tage, in denen sie auch einmal ungestört sein konnten.

Wie in einem Brennglas ist in dem Schicksal der beiden vieles gebündelt, das charakteristisch für die damaligen Jahre war: Mangelwirtschaft, Angst, Überwachung und Bespitzelung im Privat- und Berufsleben, aber auch das grundsätzliche Einverständnis mit dem bolschewistischen System. Verblüffend mutet unter diesen Bedingungen die große innere Freiheit des Denkens an, die sich Swetlana und Lew bewahrt haben.

Orlando Figes hat aus der Fülle des Materials Briefe ausgewählt, die hochbetagten Protagonisten interviewt und ist an die Schauplätze des Geschehens gereist. Er bettet die Briefe in Erzählungen über die Vorgeschichte ein: Lews Kriegserlebnisse, das Leben Swetlanas und ihrer Familie und die Schicksale von Lews Mithäftlingen. So ist ein fesselndes Buch entstanden, das weit mehr ist als nüchterne Geschichtsschreibung, das mich immer wieder fassungslos gemacht hat ob des Irrsinns und der Willkür dieses totalitären Systems, aber auch in Erstaunen versetzt durch die Zeugnisse von Mut und Menschlichkeit.

Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, frankfurt