Belletristik

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Buchempfehlung Belletristik

Autor
Genazino, Wilhelm

Mittelmäßiges Heimweh

Untertitel
Roman
Beschreibung

Eines Tages verliert Dieter Rotmund ein Ohr. Doch das ist gar nicht so schlimm, denn ihm ist Wichtigeres abhanden gekommen: Seine Gefühle sind nur noch mittelmäßig. Genazino erzählt von einem Mann, dessen Leben auseinanderbricht und der nur hilflos zusehen kann. Der lakonische Chronist des Alltags tut dies gewohnt souverän, unprätentiös und mit viel Sinn für die komischen Seiten des Unglücks.
(Klappentext)

Verlag
Deutscher Taschenbuch Verlag, 2008
Format
Seiten
192 Seiten
ISBN/EAN
978-3-423-13724-9
Preis
8,90 EUR

Zum Buch:

Während der Fußball-EM streift ein Mann unentschlossen durch die Straßen von Frankfurt. Es ist ein lauer Sommerabend, durch die geöffneten Türen und Fenster der Lokale dringt das Gebrüll der Fernsehzuschauer. Kurzerhand entschließt sich der Mann, sich einfach dazu zu setzen, obwohl er mit Fußball rein gar nichts anfangen kann. Er bestellt einen Weißwein, ein Glas Wasser. Er beobachtet. Weniger das Spiel. Viel mehr interessiert er sich für die Gesellschaft um ihn herum, als er mit einem Mal erstarrt. „Ich sehe mein Ohr am Boden liegen wie ein kleines Gebäck, das einem Kind in den Schmutz gefallen ist. Ich überlege kurz, ob ich das Ohr aufheben und mitnehmen soll.“ Doch er steht auf, zahlt, und macht sich rasch auf den Nachhauseweg. Ohne sein Ohr, versteht sich.

Der Mann heißt Rotmund. Dieter Rotmund. Er lebt seit einiger Zeit getrennt von seiner Frau und der kleinen Tochter in einem kargen Einzimmer-Appartement. Rotmund arbeitet als Controller bei einer Arzneimittelfabrik. „Eine unaufwendige Erstellung von Verkaufs- und Kontodaten, … die Arbeit ist mir so geläufig, daß ich mir eine Aufspaltung meines Bewußtseins erlauben kann.“ Rotmund ist ein genauer, ein unerbittlicher Beobachter. Er sieht, was sonst niemand sieht oder auch nur auffällt. Oder anders gesagt, er sieht, was eigentlich jeder sehen könnte. Nur – wozu sich die Mühe machen?

Rotmund sagt über sich selbst: „Selbst harmlose Anblicke verwandeln sich in meinem Inneren in bedrohliche Zeichen. … Fast alles hier ist unansehnlich, aber man muß das Unansehnliche dauernd anschauen.“
Das tut er dann auch ziemlich ausgiebig, und dabei könnte man nicht eben behaupten, er sei ein wahrer Menschenfreund, nein, das nun wirklich nicht.

Aber sind es doch gerade diese schonungslosen, diese messerscharfen Betrachtungen, die „Mittelmäßiges Heimweh“ ausmachen. Einmal ist er z.B. mit seiner Tochter auf dem Rummelplatz. „Noch immer sind nur wenige Menschen unterwegs, … Es sind halbverkommene Personen, vom Leben sichtbar hart angefaßte Einzelgänger, Rentnerinnen am Rande der Verwahrlosung, verarmte, drogenabhängige Ehepaare, die ihre vernachlässigten Kinder mitgebracht haben, graugekämpfte Frauen, hundsäugige Alkoholiker, übergewichtige Arbeitslose, angeschlagene Psychotiker mit Gesichtern wie niedergebrannte Kerzen.“ Und er fragt sich gleich im Anschluß daran: „Gibt es ein großes beherrschendes Unglück, das sich aus vielen kleinen Unglücken zusammensetzt und das ich noch nicht kenne?“ Diese frage stellt sich ein Mann, der sein Ohr verloren hat, einfach so verloren hat. Und nicht nur sein Ohr.

Ich muß gestehen, ich war bisher kein großer Genazino-Leser, aber nach „Mittelmäßiges Heimweh“ hat sich das schlagartig geändert. Er besitzt eine unvergleichliche Art, mit einem Minimum an Aufwand die Dinge auf den Punkt zu bringen, da ist nichts an überflüssigem Beiwerk, die Sätze so präzise wie ein chirurgischer Eingriff. Und verdammt witzig ist er, das vor allem. Ich mag diesen intelligenten, schwarzen Humor. Dieses Makabre.

Axel Vits,  Der andere Buchladen, Köln