Belletristik

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Buchempfehlung Belletristik

Autor
Mantel, Hilary

Von Geist und Geistern

Untertitel
Autobiografie. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
Beschreibung

Hilary Mantel, die in England seit den achtziger Jahren regelmäßig Romane und Erzählungen veröffentlicht, ist 2009 einem großen Publikum bekannt geworden. In diesem Jahr erschien der erste Band ihrer Cromwell-Triologie, „Wölfe“, der auch hier zum Bestseller wurde. Für dieses Buch und den Folgeband „Falken“ erhielt sie Englands höchste literarische Auszeichnung, den Booker Prize. Nun hat ihr deutscher Verlag die 2003 in England erschienene Autobiographie „Von Geist und Geistern“ veröffentlicht, und man muss ihre großartigen Romane nicht kennen, um dieses hier mit Vergnügen zu lesen.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
DuMont Buchverlag, 2015
Format
Gebunden
Seiten
240 Seiten
ISBN/EAN
978-3-8321-9769-8
Preis
19,99 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Hilary Mantel wurde 1952 in Glossop, England, geboren. Nach dem Jura-Studium in London war sie als Sozialarbeiterin tätig. Sie lebte fünf Jahre lang in Botswana und vier Jahre in Saudi-Arabien. Für den Roman ›Wölfe‹ (DuMont 2010) wurde sie 2009 mit dem Booker-Preis, dem wichtigsten britischen Literaturpreis, ausgezeichnet. Mit ›Falken‹, dem zweiten Band der Tudor-Trilogie, gewann Hilary Mantel 2012 den Booker bereits zum zweiten Mal.

Zum Buch:

Hilary Mantel, die in England seit den achtziger Jahren regelmäßig Romane und Erzählungen veröffentlicht, ist 2009 einem großen Publikum bekannt geworden. In diesem Jahr erschien der erste Band ihrer Cromwell-Triologie, „Wölfe“, der auch hier zum Bestseller wurde. Für dieses Buch und den Folgeband „Falken“ erhielt sie Englands höchste literarische Auszeichnung, den Booker Prize. Nun hat ihr deutscher Verlag die 2003 in England erschienene Autobiographie „Von Geist und Geistern“ veröffentlicht. 2003 war Hilary Mantel 51 Jahre alt und hatte, wie sie schreibt, bis dahin das Gefühl, das Buch ihres Lebens werde von anderen Menschen geschrieben. Nun blickt sie zurück und fragt:

Wie war esfür ein kleines Mädchen, im England der fünfziger und sechziger Jahre in äußerst bescheidenen Verhältnissen aufzuwachsen? Zusammen mit zwei Brüdern, dem Vater, der Mutter und deren neuem Partner? Der dann ihr Stiefvater wird und von dem sie schreibt: „Selbst wenn er irrte, hatte er recht.“ In einer Familie, über die sich das Schweigen wie Mehltau legt, weil man das Urteil der Nachbarn fürchtet? In katholischen Schulen, in denen wenig vermittelt, dafür umso häufiger geprügelt wird?

Wie war es, in den frühen siebziger Jahren Jura zu studieren? In einer Zeit, die Frauen an der Universität immer noch lieber in der Lehrerinnen-Ausbildung oder im Fach Kunstgeschichte sah und in der ein Tutor mit seiner Meinung, „dass Frauen nicht in seine Klasse gehörten, nicht hinter dem Berg hielt.“

Wie war es, fast ein Leben lang an diffusen Schmerzen zu leiden, die nach Meinung der Ärzte nur im Kopf waren? Irgendwann dann mit Medikamenten behandelt zu werden, die einen an den Rand der Psychose treiben? Und wie lebt es sich in einem Körper, der, als die Krankheit endlich erkannt wird, durch die notwendige Behandlung auf ein Mehrfaches des ursprünglichen Umfangs anschwillt?

Das sind die Fragen, die Hilary Mantel in ihrer Autobiographie behandelt. Dahinter steht ein großes Thema: Wie überlebt man in einer solchen Welt und wie besteht man trotz dieser Widrigkeiten auf seinem inneren Kern, der so völlig anders ist als das Äußere. Denn in dem zarten, kranken Mädchen wohnt ein kämpferischer Ritter, ein Streiter gegen Unrecht und Demütigung, der sich selten zeigen, manchmal aber durchaus rabiat ausbrechen kann. Er ist es auch, der sie zum Jurastudium treibt. Auch wenn Mantel selbst erkennt: „… mein brennendes Verlangen nach Gerechtigkeit machte mich besonders ungeeignet dafür.“ Eine grundsätzliche, tiefe Kraft lässt sie die Widerstände, denen sie sich ständig gegenüber sieht, aushalten und letztlich in Stärke verwandeln.

Auch eine weitere Qualität, die sie besitzt, ist häufiger Last als Segen: sie nimmt „Geister“ wahr. „Ich bin es gewohnt, Dinge zu sehen, die nicht da sind“, schreibt sie. Auslöser waren häufige, heftige Migräneattacken, die mit einer „Aura“ visionärer Bilder einhergehen und sie für Schwingungen sensibilisieren, die außerhalb der normalen Wahrnehmung liegen. Geister der Vergangenheit, Geister nicht ausgeschöpfter Möglichkeiten, aber auch die Geister ihrer niemals geborenen Kinder.

Ihre Rettung wird das Schreiben, und auch für ihre literarische Anerkennung braucht sie zähen Durchhaltewillen. Zu ihrer Autobiographie sagt sie: “Ich schreibe nicht, weil ich um Mitleid heischen will. Menschen durchleben weit Schlimmeres, ohne je davon etwas zu Papier zu bringen. Ich schreibe diese Sätze, um die Geschichte meiner Kindheit und meiner Kinderlosigkeit in den Griff zu bekommen; um mich zu lokalisieren, wenn nicht in meinem Körper, dann im schmalen Zwischenraum zwischen einem Buchstaben und dem nächsten, zwischen den Zeilen, wo die Geister der Bedeutung leben.”

„Von Geist und Geistern“ ist die Auseinandersetzung mit einem gnadenlosen Kampf des Körpers und der Seele, aus dem die Autorin siegreich, aber nicht unversehrt hervor gegangen ist. Das Buch ist wütend, lakonisch, unsentimental, bestürzend, zart und – zum Glück – immer wieder irrwitzig komisch. Man muss ihre großartigen Romane nicht kennen, um dieses hier mit Vergnügen zu lesen.

Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt