Belletristik

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Buchempfehlung Belletristik

Autor
Miller, Andrew

Friedhof der Unschuldigen

Untertitel
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Sprecher Frank Stöckle
Beschreibung

1785. Der junge und unerfahrene Ingenieur Jean-Baptiste Baratte ist aus der Provinz nach Versailles gerufen worden und erhält von höchster Stelle einen Auftrag. Er soll den mitten in Paris gelegenen, jahrhundertealten „Friedhof der Unschuldigen“ räumen, dessen Ausdünstungen zu einer ernsten Gefahr für die Anwohner geworden sind. Eine vernünftige Entscheidung, sollte man meinen – aber das sehen die Menschen, die an und auf dem Friedhof leben, durchaus nicht alle so. Und so hat Baratte nicht nur mit seiner unappetitlichen Herkulesaufgabe zu kämpfen, sondern auch mit bedrohlichen und unerklärlichen Vorgängen.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Audiobuch, 2013
Format
6 CDs., Spieldauer 450 Min.
Seiten
0 Seiten
ISBN/EAN
9783899644999
Preis
22,95 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

A. D. Miller, Jahrgang 1974, studierte Literatur in Cambridge und Princeton. Er arbeitete für The Economist und war von 2004 – 2007 dessen Moskau-Korrespondent. Miller lebt mit seiner Familie in London.

Zum Buch:

Mitten in Paris liegt seit Jahrhunderten der „Friedhof der Unschuldigen“. Dort werden Schicht auf Schicht die Toten der Stadt beerdigt. Mehr oder weniger nackt in Armengräbern, einzeln in ihren Särgen oder in Familiengrüften. Hunderttausende liegen dort, und ihre Ausdünstungen vergiften die umliegenden Viertel und verursachen Krankheiten. Selbst im fernen, abgehobenen Versailles beginnt man sich Gedanken um den unhaltbaren Zustand zu machen, und so wird der junge, ehrgeizige Ingenieur Jean-Baptiste Baratte aus der Provinz mit dem Auftrag betraut, den Friedhof und die darauf stehende Kirche abzureißen. Was zunächst durchaus vernünftig klingt, stellt sich jedoch als ziemlich heikle Aufgabe heraus.

Der linkische junge Mann, Anhänger Voltaires und der „Partei der Zukunft“, stößt schnell an seine Grenzen. Der Jugendfreund, den er sich zur Hilfe holt, ist dem Alkohol mehr zugetan, als gut ist. Die flämischen Arbeiter, die er aus den heimischen Bergwerken angeheuert hat, erfüllen ihr Arbeitspensum mal mürrisch, mal dumpf – zu trauen ist ihnen nicht. Der Pfarrer der zum Abriss stehenden Kirche geistert durch das alte Gemäuer und stößt wilde Anschuldigen aus. Der Küster und seine junge Enkelin Jeanne, die sich in Baratte verguckt, helfen mit ihrer Ortskenntnis, machen aber aus ihrer Trauer über die Schändung des Friedhofs kein Hehl, wie auch die Menschen, die um das Gelände herum leben, mehr empört als erleichtert sind. Seine dubiose Wirtsfamilie möchte ihm ihre Tochter andienen. Armand, der Organist der Kirche, der den Fledermäusen Konzerte gibt, ist zu dem einsamen, unerfahrenen Baratte zwar sehr freundlich, neigt allerdings dazu, ihn zum Leichtsinn zu verführen. Dann ist da noch der hilfsbereite, freundliche Arzt Dr. Guillotin, der sich mit zwei Kollegen über alles Außergewöhnliche hermacht, was der Friedhof für die Wissenschaft preisgibt. Der einzige Mensch, bei dem Baratte sich ruhig und sicher fühlt, ist die Prostituierte Heloise.

Das klingt nach einer fulminanten Historienschwarte, und das ist es – auch. Aber das Buch geht darüber hinaus. Millers Stil ist leicht und flüssig, die Charaktere, allen voran seine Hauptfigur, sind differenziert dargestellt. Bei aller Drastik der Handlung überschreitet er nie die Schwelle zur Effekthascherei. Die große Stärke des Buches liegt in der Schilderung der Verhältnisse. An der Räumung des Friedhofes zeigt Miller eine Gesellschaft kurz vor dem Umbruch. Es ist ein Schwanken zwischen Vernunft und Aberglauben, Tradition und Moderne, und untergründig nimmt man das leise Grollen wahr, das sich nur vier Jahre später bis zum Ausbruch der alles umwälzenden Revolution steigern wird.

Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt