Zum Buch:
Wir sind gewohnt, Geschichte aus westlich geprägter Sicht zu betrachten, in der andere Kulturen und Kontinente nur in Abhängigkeit von der unsrigen gesehen werden: Griechen, Römer, Germanen, Mittelalter, Entdeckungen, Aufklärung, Revolutionen, Weltkriege. Wechselt man den Standort und betrachtet Geschichte aus islamischer Sicht sieht das ganz anders aus: Mesopotamien, Persien, Geburt des Islam, Kalifat, Sultanat, Kreuzfahrer, Osmanisches Reich, westliche Durchdringung. Beide Geschichten haben lange und unabhängig voneinander existiert und tun dies bis heute. Denn eine gemeinsame Geschichte ist es nie geworden.
Tamim Ansary erzählt die Geschichte der Mitte der Welt wir nennen die Region Naher Osten. Er erzählt von Hethitern, Sumerern, Persern. Von der Entstehung des Islam. Davon, wie Mohammed zum politischen, gesellschaftlichen, juristischen und geistlichen Führer der neuen Religionsgemeinschaft wurde, wodurch der Islam von Beginn an ein gleichermaßen religiöses wie politisches Projekt war. Von der Spaltung in Sunniten und Schiiten. Vom Weg des Islam nach Indien, Pakistan, in die Türkei. Vom Aufstieg und Fall islamischer Reiche, vom Kalifat, Sultanat, vom osmanischen Reich und seinem Untergang. Von der Neuordnung der islamischen Welt durch die willkürlichen Grenzziehungen und Staatsgründungen der kolonialen Mächte. Das Buch endet mit dem 11. September. Von diesem Moment an ist die islamische Geschichte für den Westen unübersehbar wieder aus der Verborgenheit hervorgetreten.
Über die geschichtlichen Fakten hinaus gibt es in diesem Buch unglaublich viel zu entdecken: Wer weiß schon, dass die Dampfmaschine bereits Mitte des 16. Jahrhunderts erfunden wurde, um bei einem Festbankett einen Bratspieß anzutreiben? Ein Spielzeug, dem man, so wie die Produktionsbedingungen waren, keinen weiteren Nutzen abgewinnen konnte. Wie sehen die Kreuzzüge aus, wenn man von Jerusalem aus auf die anrückenden barbarischen Horden blickt? Was geschah in Ägypten nach der Schlacht zwischen der napoleonischen und englischen Armee vor den Pyramiden? Wie weit reicht der Armenierkonflikt zurück? Wer weiß, dass die Übermacht des Westens in den islamischen Ländern damit begonnen hat, dass dieser mit dem bei seinen Entdeckungen gewonnenen Gold die Rohstoffe der Region aufkaufte? Und dass die langsam zerfallenden Reiche dann westliche Militärberater und Waffentechnik ins Land holten?
Entstanden ist das Buch aus einer Vorlesungsreihe über das Verhältnis von Islam und Westen an der San Francisco State University, die später für den Rundfunk überarbeitet wurden. Es ist kein trockener wissenschaftlicher Text, liest sich locker, spannend, oft sogar amüsant (auch wenn einige Formulierungen die Grenze zum Flapsigen streifen). Ansary ist ein Meister kompakter Zusammenfassungen, was zwangsläufig zu Verknappungen führt. Wie aber wollte man sonst auf 348 Seiten eine solch komplexe Geschichte erzählen.
Beim Thema Frauen im Islam tut sich jedoch ein großes Loch auf. Abgesehen von einigen herausragenden weiblichen Persönlichkeiten aus den Frühzeiten geht Ansary genau so mit ihnen um, wie es im fundamentalistischen Islam üblich ist: sie kommen nicht vor. Einzig im Nachwort widmet er der unterschiedlichen Auffassung von islamischer und westlicher Welt über das Selbstbestimmungsrecht der Frauen einige Zeilen. Seine Auffassung, das Problem ließe sich erschöpfend dadurch erklären, dass in (den meisten) islamischen Ländern die männlichen und weiblichen Welten getrennt sind und sich nur im Privaten begegnen (um die Sexualität als Faktor aus dem öffentlichen Leben auszuschließen), ist angesichts der Lebensrealität vieler Frauen doch zu simpel.
Abgesehen von diesem Kritikpunkt ist Die unbekannte Mitte der Welt ein rundum empfehlenswertes Buch.
Ruth Roebke, Autorenbuchhandlung Marx Co., Frankfurt