Zum Buch:
Die Auszeichnung des Osteuropa-Historikers Jörg Baberowski mit dem Leipziger Buchpreis für seine Studie „Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt“ ist hoch verdient. Der Historiker analysiert den Stalinismus nicht als ideologisches Gebilde, sondern als „eine Ordnung dauerhafter Gewalt“. In zwei früheren Büchern meinte Baberowski noch, diese Gewalt sei ein genuines Produkt der Moderne. Mit diesem Irrtum räumt der Autor jetzt gründlich auf und zeigt, dass die stalinistische Gewaltherrschaft ihre Wurzeln nicht in kommunistischen oder marxistischen Ideen und Vorstellungen hatte, sondern in der nur schwach ausgebildeten Staatlichkeit des Sowjetstaates. Dessen Kern bildete die archaische Dorfgemeinschaft mit ihren brutalen Riten – von der Blutrache über den Ehrenkodex bis zur straflosen Tötung Fremder.
Die Blutspur in der sowjetischen Geschichte von 1917 bis 1953 – dem Todesjahr Stalins – resultiert nicht aus der Herrschaft einer diktatorischen Bürokratie, wie die Totalitarismustheorie fünfzig Jahre lang glauben machen wollte, sondern aus einem schwachen Staat, der selbst minimale zivilisatorische Ansprüche nur mit äußerster Gewalt durchsetzen konnte. Der Terror, mit dem Stalin regierte, war ein Zeichen der Schwäche und des Unvermögens, Bürger mittels Rechtsnormen gleichzeitig zu verpflichten und zu belohnen.
Baberowski zeichnet minutiös nach, wie die Bolschewiki 1917 begannen, ein vom Krieg verwüstetes Land zu regieren, das sie zwar militärisch beherrschten, „über dessen Bevölkerung sie aber keine Macht ausübten“. Die Masse der verarmten und entwurzelten Bauern entzog sich politischer Kontrolle und brachte die archaischen Sitten und Gewohnheiten vom Land in die Stadt, in der sie einen Ausweg aus ihrem Elend suchten.
Der Versuch, nach den Wirren, der Hungersnot und der Gewaltorgie des Bürgerkriegs mittels der „Neuen ökonomischen Politik“ (NEP) wieder ordentliche Marktbeziehungen zwischen der ländlichen und der städtischen Bevölkerung herzustellen, gelang nur durch die Intensivierung der Gewalt, das heißt, indem man die Bauern zwang, ihre Produkte zu verkaufen. In dieser Phase entstand der Stalinismus als eine Gewaltherrschaft auf der Basis von Klientelbeziehungen. Mit jedem Versuch des jungen Staates, Ordnung zu stiften, konstruierte er neue „Feinde“, die er nur mit Gewalt ruhig stellen konnte. Das setzte eine Gewaltspirale in Bewegung, der nacheinander Ingenieure und Techniker, Beamte und Priester, Lebensmittelhändler und Bauern zum Opfer fielen, die der Sabotage und des Verrats bezichtigt wurden.
Der Staat regierte mit Schauprozessen, Terrormaßnahmen und Deportationen. Diese trafen zuerst die Kulaken, die von 1935 an systematisch deportiert und ermordet wurden, weil man sie für die Hungersnot verantwortlich machte, die durch Stalins Kollektivierung der Landwirtschaft verursacht wurde.
Fortan galten Kritik und Opposition als Verrat. Durch Schauprozesse gegen die kleine Schicht der gebildeten kommunistischen Funktionäre disziplinierte Stalin die Partei mit Hilfe der Geheimpolizei, bis sie zu einem Haufen von Opportunisten und Konformisten geworden war, die alles mitmachten und ertrugen. Nacheinander wurden der Staatsapparat, die Partei und die Armee „gesäubert“. In den Jahren des Großen Terrors 1937/38 wurden Millionen von Menschen gefoltert, deportiert und getötet.
Baberowskis Buch rekonstruiert diese unglaubliche Explosion der Gewalt gegen die eigene Bevölkerung anhand der neuesten russischen Literatur, aber auch durch eigene Archivstudien. Stalin und seine wichtigsten Gefolgsleute übten eine „absolute Macht“ aus, so dass sie jeden – auch die eigenen Helfer – über Nacht zum Klassenfeind, Spion oder Verräter erklären konnte. Die Herrschaft von Verdacht und Denunziation hörte bei Kriegsbeginn nicht auf, sondern verlagerte sich nur auf „unzuverlässige“ ethnische Minderheiten, die nun millionenfach deportiert und ermordet wurden.
Baberowskis klar strukturiertes und gut geschriebenes Buch wartet mit niederschmetternden Opferzahlen und der quellennahen Beschreibung niederträchtiger Inszenierungen der Gewaltherrschaft auf. Ein Standardwerk.
Rudolf Walther, Frankfurt am Main