Zum Buch:
»Als ich jünger war, konnte ich mich an alles erinnern, ob es sich nun zugetragen hatte oder nicht; aber meine Fähigkeiten lassen nach, und bald wird es so sein, dass ich mich nur noch an Letzteres erinnern kann.«
Mark Twain, der eigentlich Samuel Langhorne Clemens hieß und von dem dieser ausgesprochen sympathische Satz stammt, arbeitete über 35 Jahre an seiner Autobiographie, wobei er den Großteil einer äußerst fähigen Stenographin diktierte. Aber er wurde und wurde nicht fertig. Was vor allem daran lag, dass er absolut nichts von einer rein chronologischen Reihenfolge hielt. Im Gegenteil, sein ungebrochener Redeschwall bezog sich immer nur auf die kurzen Ausschnitte seiner Lebensgeschichte, die ihm an diesem Tag gerade am interessantesten erschienen – sodass er irgendwann völlig den Überblick verlor.
Es brauchte dann noch drei weitere Jahre, bis Ende 1909 alles zu Twains Zufriedenheit geordnet war. Doch da verfügte er, dass das mehr als eine halbe Millionen Wörter umfassende Konvolut erst 100 Jahre nach seinem Tod veröffentlicht werden dürfe. Ein halbes Jahr später starb der Mann, der im Alter von 12 Jahren die Schule abbrach und eine Lehre als Schriftsetzer begann, als Reporter, als Goldgräber und Lotse arbeitete, am Sezessionskrieg teilnahm, die halbe Welt bereiste, als Verleger bankrott ging und durch seine Bücher bis heute an Berühmtheit nichts eingebüßt hat.
Jetzt, zwei Jahre nach der Veröffentlichung, liegt die deutsche Übersetzung vor, der erste Band einer Trilogie, und natürlich liest sie sich ganz ausgezeichnet. Auch wenn Twain – ebenfalls ein sehr sympathischer Zug – sich dabei an keinerlei zeitliche Reihenfolge hält und statt dessen einfach drauflosredet, besticht „Meine geheime Autobiographie“ doch gerade durch die Kraft, die unvoreingenommene Frische, die Wortgewandtheit, die hier in jedem einzelnen Satz zu bewundern ist. Da ist jede noch so kleine Nebensächlichkeit ein Geschenk an den Leser, selbst das scheinbar Belangloseste groß und wichtig und teilweise ungemein komisch. Ein begnadeter Erzähler, Zeitzeuge einer längst vergangenen Epoche, ist wiederzuentdecken.
Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln