Zum Buch:
Die „Bielefelder Sozialgeschichte“ genießt weltweit Anerkennung. Ebenso das Hauptwerk ihres Nestors Hans-Ulrich Wehler – die fünfbändige „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“ (1987-2008) mit fast 5000 Seiten. Das schützt den „großen Historiker“ (so sein Kontrahent Christopher Clark) hierzulande nicht vor Häme und Verhöhnung. Patrick Bahners, ehemaliger FAZ-Feuilletonchef, blies kräftig ins Horn und fertigte Wehlers monumentale „Gesellschaftsgeschichte“ argumentfrei mit 28 Buchstaben ab: „tautologische Umständlichkeit“ (FAZ 20.5.2014). Mit solchen Anwürfen von konservativer Seite muss rechnen, wer aus der neudeutschen Gemütlichkeit ausschert und radikale Kritik und historische Aufklärung nicht für vorgestrig hält.
Wehlers dreizehnter Sammelband mit kürzeren Aufsätzen und tagespolitischen Debattenbeiträgen aus unterschiedlichen Anlässen enthält zwanzig Texte aus den Jahren 2010 bis 2013. Die Beiträge decken drei Bereiche ab: Erstens Aspekte der deutschen Politikgeschichte, vom Verhältnis der Deutschen zum Kapitalismus über die Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts bis zur „Spiegel“-Affäre und zur Sarrazin-Debatte. Die zweite Gruppe von Texten behandelt methodische Probleme der Sozialgeschichte und deren Abgrenzung von anderen Sozialwissenschaften, die dritte tagespolitische Debattenbeiträge, in denen sich Wehler vor allem mit dem in der politischen Publizistik am meisten vernachlässigten bzw. verdrängten und bewusst ausgeblendeten Thema der wachsenden sozialen Ungleichheit beschäftigt.
Ökonomen der Klassik und insbesondere die Neoklassiker von Friedrich August bis zu Milton Friedman und seiner Cambridge-Schule betrachteten die deutsche Kameral- und Polizeiwissenschaft sowie die Staatswissenschaft und die ältere und jüngere historische Schule, aus denen erst spät die universitären Fächer Volkswirtschaftslehre und Nationalökonomie hervorgingen, als provinzielle deutsche Veranstaltung, als „Sonderweg“, für den sie nur Ver- und Missachtung übrig hatten. Wehler zeigt in seinem Essay über „Die Deutschen und der Kapitalismus“, dass die historische Kapitalismusanalyse, die nicht den Fiktionen eines säkularen Dogmas der „Plusmacherei“ (Marx) in einem staatsfreien Raum nachjagte, zur Erklärung des Kapitalismus mehr beitrugen als die neoliberal orchestrierten Spielereien mit mathematischen Modellen, Rational-Choice-Spekulationen und dem biederen homo oeconomicus. Von Wilhelm Roscher über Karl Marx und Werner Sombart bis zu Gustav Schmoller und Max Weber entstanden durchaus unterschiedliche Kapitalismus-Erklärungen, die auch heute noch Erkenntnisse ermöglichen, die dem beschränkten Horizont des neoliberalen „Marktfanatismus“ entgehen, der Ökonomen seit den 70er Jahren auszeichnet. Wehler hebt die Bedeutung der Studie von Wolfgang Streeck („Re-Forming Capitalism. Institutional Change in the German Political Economy“, 2009) hervor, der eine Rückkehr zu historisch-politisch informierten, ökonomisch-sozialen Analysen an Stelle stupider Modelle idealer Märkte vorschlägt. Ausgesprochen sympathisch ist Wehlers selbstkritisches Plädoyer für globalhistorisch angelegte Studien, mit denen Defizite und „Besonderheiten der jeweiligen Sonderwege“ kritisch analysiert werden könnten, denn einen Sonderweg im Singular kann nur unterstellen, wer von einen „Normalweg“ ausgeht.
Mit der ihm eigenen Verve kritisiert Wehler das letzte Buch von Götz Aly, der den Sozialneid als Ursache und Kern des modernen Antisemitismus herausarbeiten möchte, aber wichtige Faktoren – vom Nationalismus und Rassismus bis zum christlichen Antijudaismus – unterschätzt. Für Wehler „ein klassischer ‘Flop‘, der zentrale Elemente nicht einmal ins Auge fasst.“ Fair charakterisiert Wehler die Vorzüge der 900 Seiten starken Analyse der ersten Gesamtgeschichte der Bundesrepublik durch den jüngeren Marburger Kollegen Eckart Conze, bezweifelt jedoch mit guten Argumenten, dass „Sicherheit als roter Faden“ taugt, um alle Probleme und Konflikte der letzten 65 Jahre adäquat darzustellen.
Die ungebrochene wissenschaftliche Produktivität und Neugier des über 80-jährigen Historikers und „public intellectual“ erfordert schlicht Respekt und Anerkennung für ein beeindruckendes Gesamtwerk. Der Sammelband dokumentiert neue Einsichten und Perspektiven gut lesbar auf jeder Seite.
Rudolf Walther, Frankfurt am Main