Zum Buch:
Der von den Berliner Historikern Michael Wildt und Christoph Kreutzmüller herausgegebene Band „Berlin 1933-1945“ enthält 23 Beiträge von zumeist jüngeren Wissenschaftlern zur nationalsozialistischen Diktatur. Die Beiträge verteilen sich gleichmäßig auf die Themenbereich Machtübernahme, Herrschaft und Verwaltung, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, Terror und Verfassung sowie Krieg. Sie geben Aufschluss über die Lebensverhältnisse in der Hauptstadt vor dem Krieg und im Krieg und dementieren den feuilletonhistorischen Mythos von der mit zweifelhaftem Zahlenhokuspokus hochgerechneten „Gefälligkeitsdiktatur“ (Götz Aly) Hitlers. Die Autoren enthüllen keine medial aufpumpbaren Sensationen, wohl aber überraschende und präzise Details. Dazu zählt zum Beispiel die Feststellung der Herausgeber in der Einleitung, dass der von der Propaganda gefeierte „neue Wohnraum“ in Berlin nach 1933 vor allem dadurch entstanden ist, dass bestehende Großwohnungen in Wohnungen bescheidenen Zuschnitts aufgeteilt wurden. Zu den Mythen gehört auch die Rede vom „Trümmerfeld“ Berlin. Trotz der enormen Schäden in der Schlacht um Berlin und 17 großen Angriffen zwischen November 1943 und 1944 blieb die Rüstungsindustrie im Wesentlichen intakt. Laurenz Demps belegt in seinem Aufsatz, dass es während des ganzen Bombenkriegs nur einen einzigen totalen Stromausfall gab – nämlich in der Nacht vom 27. auf den 28. April 1945.
Oliver Reschke und Michael Wildt skizzieren den „Aufstieg der NSDAP in Berlin“. Die Partei war in der Hauptstadt vor und nach 1933 schwächer als im gesamten Reich. Bei den Märzwahlen 1933 erzielte die Partei im Reichsdurchschnitt 43,9 Prozent der Stimmen, in Berlin nur 31,3 Prozent. Und der Durchmarsch der Aufstieg der Partei führte nicht über die Arbeiterquartiere, sondern über bürgerliche und gutbürgerliche Wohnviertel.
Exzessive Gewalt, die vor allem von der SA ausging, bestimmte die Verhältnisse in Berlin. Die SA unterhielt eigene Gefängnisse und Folterkeller. Nur mit Mühe gelang es der Zentrale, von München aus die Gewaltdynamik der SA zu disziplinieren.
Trotz der brutalen Ausschaltung der freien Gewerkschaften und der Besetzung der Gewerkschaftshäuser durch die „Deutsche Arbeitsfront“ (DAF) am 2.5.1933 blieb die „Nationalsozialistische Betriebszellen-Organisation“ (NSBO) marginal. Bei den Betriebsratswahlen 1933 erreichte sie in Berlin nur 5 Prozent der Stimmen. Der Zwangsmitgliedschaft in der DAF leisteten viele trotzdem keinen Widerstand aus Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes. Die Stagnation bzw. der Rückgang der Bruttolöhne (1929: 36,48 RM/Woche; 1938: 34,73 RM/Woche) entmutigte die Arbeiter und führte zum Zerfall und zur Atomisierung der traditionellen Arbeitermilieus. Immer deutlicher zeichnet sich eine Hierarchisierung der Arbeitenden ab, die von deutschen Männern über deutsche Frauen und deutschen Juden bis hinunter zu ausländischen Zwangsarbeitern reichte.
Ein besonders informativer Beitrag über die Berliner Protestanten, die rund 70 Prozent der Bevölkerung ausmachten, stammt von Manfred Gailus. Die protestantische Kirche war nach 1933 gespalten in Anhänger der „Bekennenden Kirche“, die dem nationalsozialistischen Regime kritisch gegenüberstand, und den konformistischen „Deutschen Christen“. 68 der 131 Berliner Gemeinden zählten zur „Bekennenden Kirche“, deren Zentrum im bildungsbürgerlich geprägten Dahlem lag, wo Martin Niemöller, Friedrich Müller und Eberhard Röhricht wirkten. In der Apostel-Paulus-Kirche in Berlin-Schönberg kam es beim Adventgottesdienst 1934 zu einem denkwürdigen Wettstreit zwischen 200 „deutschen Christen“ und 1400 Anhängern der „Bekennenden Kirche“. Die beiden Fraktionen sangen unterschiedliche Lieder und protestierten mit Sprechchören und Orgelunterstützung sowie einem Posaunenchor, Zwischenrufen und rhythmischem Klatschen gegeneinander. Der handfeste Krach endete mit dem Auszug der Mehrheit aus der mit NS-Fahnen dekorierten Kirche.
Ein besonders trübes Kapitel ist die von der Verwaltung auf eigene Faust betriebene Ausgrenzung und Verfolgung der Juden. Staats- und Parteiorgane lieferten sich geradezu einen Wettkampf mit sich gegenseitig überbietenden Vorschlägen und Maßnahmen zur Entrechtung und Verfolgung der jüdischen Bürger. Wolf Gruner zeigt, dass bis Ende 1934 nicht weniger als 55 antijüdische Verfügungen ergingen, die keinerlei gesetzliche Grundlage hatten. – Insgesamt überzeugt der Band durch seine stringente, von Spekulationen und windigen Hypothesen freie Argumentation.
Rudolf Walther, Frankfurt am Main