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Autor
McCann, Colum

Apeirogon

Untertitel
Roman. Aus dem Englischen von Volker Oldenburg
Beschreibung

Rami Elhanan und Bassam Aramin – der eine ist jüdischer Israeli, der andere muslimischer Palästinenser. Der eine war als Terrorist im israelischen Gefängnis, der andere als Soldat in mehreren Kriegen. In diesem Roman geht es um das, was die beiden Männer verbindet, denn sie sind Freunde und Kampfgefährten. Sie kämpfen für den Frieden, indem sie gemeinsam auftreten und nacheinander ihre Geschichte erzählen: die Geschichte vom Mord an ihren Töchtern. Die eine wurde bei einem Selbstmordanschlag durch einen palästinensischen Terroristen getötet, die andere durch ein von einem israelischen Soldaten abgefeuertes Gummigeschoss.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Rowohlt Verlag, 2020
Format
Gebunden
Seiten
608 Seiten
ISBN/EAN
978-3-498-04533-3
Preis
25,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Colum McCann wurde 1965 in Dublin geboren. Er arbeitete als Journalist, Farmarbeiter und Lehrer und unternahm lange Reisen durch Asien, Europa und Amerika. Für seine Romane und Erzählungen erhielt McCann zahlreiche Literaturpreise, unter anderem den Hennessy Award und den Rooney Prize for Irish Literature. Zum internationalen Bestsellerautor wurde er mit den Romanen «Der Tänzer» und «Zoli». Für den Roman «Die große Welt» erhielt er 2009 den National Book Award. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in New York.

Zum Buch:

„Wer weiß, wo das alles endet? Alles geht weiter. (…) Wir haben Wörter, aber manchmal sind Wörter nicht genug.“ (298) Das sind die Worte, die in der Mitte des Romans stehen. Sie gehören zu der Ansprache, die Rami Elhanan in einem Kloster in Bait Dschala an eine internationale Gruppe hält. Diese Gruppe, das sind die Leser*innen des Romans. Sie setzen sich seiner Erzählung aus, die eine Zumutung ist – aber selbstverständlich nichts im Vergleich zu den Erfahrungen, von denen Rami Elhanan berichtet. Nach ihm berichtet Bassam Aramin von seinen Erfahrungen, die die Ramis zu spiegeln scheinen. Der eine ist jüdischer Israeli, der andere muslimischer Palästinenser. Der eine war als Terrorist im israelischen Gefängnis, der andere als Soldat in mehreren Kriegen. In diesem Kloster und im Roman geht es um das, was die beiden Männer verbindet, denn sie sind Freunde und Kampfgefährten. Sie kämpfen für den Frieden, indem sie gemeinsam auftreten und nacheinander ihre Geschichte erzählen: die Geschichte vom Mord an ihren Töchtern. Die eine wurde bei einem Selbstmordanschlag durch einen palästinensischen Terroristen getötet, die andere durch ein von einem israelischen Soldaten abgefeuertes Gummigeschoss.

Der Roman – und es ist ein Roman, obwohl Rami und Bassam reale Personen sind, genau wie ihre toten Töchter reale Personen waren – besteht aus Splittern der Erinnerung und der Überlegungen aus beiden Perspektiven. Er enthält aus Bassams und Ramis Sicht Erinnerungen an ihre Töchter, an Alltagssituationen, an Liebevolles und an Konflikte. Andere Splitter rufen die Erfahrungen auf, die sie im Krieg bzw. im Gefängnis gemacht haben. Sie reflektieren ihre Rolle als öffentliche Personen. Die Erinnerung an das gemeinsame Warten im Krankenhaus, nachdem Bassams Tochter angeschossen worden war, zum Beispiel führt zu einer Reflektion über das Filmische: Hätte Spielberg den Flug des Geschosses gefilmt – und in welcher Einstellung, mit welcher Perspektive (179)?. Aber McCann verfolgt keine Assoziationen zur Schoa. Er bleibt bei den Bildern, die direkt an die Erfahrung der Protagonisten anschließen. Allerdings nicht ganz: Es gibt Texte im Roman, die unabhängig vom Geschehen um die Morde und von der politischen Arbeit der beiden Friedensaktivisten Bassam und Rami zu sein scheinen. Das Entzünden des Osterfeuers in der Grabeskirche, der Vogelflug in Palästina. Der Hochseilweg von Philippe Petit über dem Hinnomtal verbindet sich durch das Symbol der Friedenstaube, die er auf dem Seil freilässt, mit der Erinnerung an Amirs getötete Tochter Smadar. Aber auch viele andere Erinnerungen lagert McCann an dieses Ereignis an, von der biblischen Erzählung von Kinderopfern in diesem Tal bis zu einem anderen Seil, das chassidische Rabbiner als Markierung des Eruv um Manhattan herum spannen. Bereits in früheren Romanen sind die Lesenden dem Hochseilartisten begegnet.

Die Montage dieser Geschichten und Recherchen erzeugt im Lesenden eine wachsende, komplexe Emotion. Ich beginne, die Emotionen der Männer zu verstehen. Gegen Ende wird immer deutlicher, dass die unterschwelligen Wahrnehmungen auch den zerstörenden Wirkungen der fortdauernden Besatzungspolitik Israels in Palästina geschuldet sind. Bei der Beschreibung friedlicher Situationen, harmonischer Landschaften, entsteht ein wachsendes Grundgefühl von Furcht: Es kann in jedem Augenblick eine Explosion geben.

Gottfried Kößler, Frankfurt