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Autor
Lemke, Grit

Kinder von Hoy

Untertitel
Freiheit, Glück und Terror
Beschreibung

In ihrem dokumentarischen Roman Kinder von Hoy beschreibt Grit Lemke, die neben ihrer Autorinnentätigkeit auch als Kuratorin und Regisseurin arbeitet, die kulturellen und politischen Entwicklungen in Hoyerswerda. Von den Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs – ab den späten fünfziger Jahren stieg die Einwohnerzahl innerhalb von knapp 20 Jahren von 10.000 auf 70.000 stetig an – bis hin zu den Nachwendejahren und ihren rassistischen Ausschreitungen erzählt Lemke die Geschichte ihrer eigenen Generation und einer vergessenen und verdrängten politisch-künstlerischen Szene.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Suhrkamp Verlag, 2021
Format
Broschur
Seiten
255 Seiten
ISBN/EAN
978-3-518-47172-2
Preis
16,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Grit Lemke, geboren in Spremberg, aufgewachsen in Hoyerswerda, arbeitet als Dokumentarfilmregisseurin und Autorin. Ihr Film Gundermann Revier wurde 2020 für den Grimmepreis nominiert.

Zum Buch:

Für Grit Lemke ist der Umzug nach Hoyerswerda 1970 – sie ist zu diesem Zeitpunkt fünf Jahre alt – wie für die meisten Kinder und auch Erwachsenen ein Eintritt in eine neue Welt. Eine neue Welt, deren ganze Realität auf Zukunft ausgerichtet ist: von den sich ständig im Weiterbau befindlichen WKs (Wohnkomplexen) über den stetig wachsenden Bedarf an Energie und Arbeitskraft des Gaskombinats Schwarze Pumpe bis hin zur „nullten Stunde“, in der sich Schulkinder, deren Unterricht parallel zum Alltag der Erwachsenen in Schichten stattfindet, im Planetarium ihr Leben als KosmonautInnen ausmalen. Überall herrscht das Gefühl von Aufstieg und Machbarkeit. Das Zusammenleben hat die Struktur der Kleinfamilie hinter sich gelassen: in den Gängen und Wäscheplätzen der WKs spielen die Kinder unter der losen Aufsicht der Frauen, die gerade nicht auf Schicht sind, weitgehend sich selbst überlassen.

Szenen dieser Zeit bilden den Auftakt zu Grit Lemkes dokumentarischem Roman über Hoyerswerda, der die persönlich gefärbten, aber allgemeiner gehaltenen Texte der Autorin, die neben eigenen Erfahrungen auch auf einer langjährigen Recherche und Sichtung zeitgenössischer Dokumente basieren, mit in O-Ton wiedergegebenen Zitaten verknüpft. Dadurch ergibt sich ein gelungenes Zeitpanorama mit großer Aufmerksamkeit für die szenische Qualität der Erinnerungen. Die Interviewten bilden dabei, wie sich im Verlauf des Romans herausstellt, keinen Querschnitt der Gesellschaft, es handelt sich vielmehr um die Gruppe derjenigen, die als Jugendliche und junge Erwachsene vom vorgezeichneten Weg, der statt in den Weltraum auch für sie in den Schichtbetrieb der Pumpe zu führen droht, abweichen und Hoyerswerda zu einem unverhofften Ort der künstlerischen Avantgarde machen. Für Jahre wird das Vorzeigemodell der sozialistischen Planstadt auch zu einem inoffiziellen und von der staatlichen Repression nahezu unbeachteten Ort des musikalischen, theatralen und poetischen Experiments. An diesem Punkt, der schon damals von den ZeitgenossInnen als lebendiger Gegenentwurf zu Brigitte Reimans Hoyerswerda in Franziska Linkerhand wahrgenommen wurde, bleibt Lemkes Bericht aber nicht stehen. Es geht auch um die Zeit des wirtschaftlichen Niedergang der Stadt schon in letzten Jahre vor der Wende, den sich Bahn brechenden Rassismus, den Verlust des Kollektiven, das schwierige Verhältnis der Linken aus Hoy zur Berliner Antifa in einem fehlgeschlagenen und für die Leute vor Ort fatalen Akt der Solidarisierung, und schließlich auf die Lähmung und Angst der KünstlerInnen bei den Ausschreitungen gegen die größtenteils mosambikanischen und vietnamesischen Vertragsarbeiter 1991. Am Ende der Kinder von Hoy ist von der Aufbruchstimmung der ersten Kapitel nichts übrig.

Insgesamt bietet Lemkes Portrait einen spannenden Einblick in eine vergessene Kulturszene ebenso wie in das Gefühl einer kollektiven Gesellschaft, deren Grund langsam erodiert und die spürbar ihren Halt verliert. Gleichzeitig unterläuft die deutlich autobiographische Färbung und die wie Kontrapunkte in den Text eingesetzten Szenen aus den Interviews mit dem mosambikanischen Vertragsarbeiter David und dem 1988 geborenen Hanni, die einen anderen Blick auf die Angriffe 1991 haben, den Anspruch auf Deutungshoheit. Kinder von Hoy ist ein wichtiger, spannender und leicht zu lesender Beitrag zur Auseinandersetzung mit der kulturellen und gesellschaftlichen Geschichte der DDR.

Theresa Mayer, Frankfurt