Zur Autorin / Zum Autor:
Lorraine Daston, geboren 1951, ist eine US-amerikanische Wissenschaftshistorikerin und war bis zu ihrer Emeritierung 2019 Direktorin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin.
Kochbücher, Spielregeln, Tischmanieren, Kleidervorschriften – Regeln bestimmen jede Kultur und unser soziales Leben, ohne dass wir ständig darüber nachdenken. Regeln sind ganz entscheidend für unser alltägliches Leben, auch wenn sie oft unscheinbar daherkommen. Lorraine Daston ist eine der bekanntesten Wissenschaftshistorikerinnen der Gegenwart, und es gelingt ihr immer wieder, komplexe Zusammenhänge einem breiten Publikum zugänglich zu machen und im hier empfohlenen Buch sogar Begeisterung und Verständnis für Regeln zu wecken.
(ausführliche Besprechung unten)
Der Originaltitel dieses Buchs lautet „Rules: A Short History of What We Live By“ und beschreibt ganz großartig, worum es der Autorin geht: Regeln sind ganz entscheidend für unser alltägliches Leben, auch wenn sie oft unscheinbar daherkommen. Lorraine Daston, bis zu ihrer Emeritierung Direktorin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, ist eine der bekanntesten Wissenschaftshistorikerinnen der Gegenwart, und es gelingt ihr immer wieder, komplexe Zusammenhänge einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Wie gut ihr das gelingt, beweist das aktuelle Buch auf beeindruckende Weise. Die Lektüre ist nicht nur informativ; sie führt auch dazu, dass die Leserin ganz unscheinbare Phänomene des Alltags mit einer neuen Aufmerksamkeit beobachten kann. Wie finden wir uns im Gewirr der Regeln und Vorschriften, die unseren Alltag strukturieren, eigentlich zurecht? Woher wissen wir, wieviel Spielraum sie uns wann lassen? Was ist das eigentlich für eine Kompetenz, Regeln zu verstehen und auszulegen? All das und noch viel mehr behandelt Daston in ihrem dichten, aber nicht weniger zugänglichen Buch, das durch seine historische Tiefe und seine faszinierenden Quellenfunde begeistert.
Regeln, so Daston, können „thick“ („füllig“) oder „thin“ („schlank“) formuliert, flexibel oder starr und allgemein oder spezifisch sein. Historisch lassen sie sich, so Daston, grob in Algorithmen, Gesetze und Vorbilder unterteilen. Daston geht von der Beobachtung aus, dass Regeln heute vor allem als Algorithmen begriffen werden, die schlank formuliert sind und starr und allgemein angewendet werden. Die sinnvolle Anwendung erfordert jedoch eine stabile, verlässliche und standardisierte Ausgangslage, eine Situation also, die unserer Lebenswelt nur ganz selten entspricht. Historisch waren Regeln jedoch sehr viel flexibler, als wir es heute von ihnen erwarten. Und auch heute brauchen „schlanke“ Regeln, wie Algorithmen, in den allermeisten Fällen „füllige“ Regeln, die „hinter den schlanken Regeln aufräumen“ – ein Beispiel sind die sogenannten „Cleaners“, die in den sozialen Medien den Schaden beheben müssen, den die Algorithmen verursacht haben.
Dastons zentrale These ist, dass Regeln immer einer Praxis entspringen und sich nur im engen Verhältnis mit Praktiken beobachten lassen. Und diese praxeologische Perspektive macht Dastons Buch so überaus spannend. In wunderbar anschaulichen Beispielen geht die Autorin dem Wesen von Regeln auf den Grund und zeigt ihre historische Einbettung. Etwa das Leben der Benediktiner, deren Tagesablauf von vielen sehr spezifischen Regeln bestimmt wird, deren Umsetzung blieb jedoch abhängig vom Kontext, wie sie am Beispiel der Tischregeln zeigt: Zwar war es vorgeschrieben, dass die Mönche pro Mahlzeit nur eine bestimmte Menge Wein erhalten durften, der Abt konnte jedoch stets situationsbezogene Ausnahmen zulassen. Hier entscheidet also situationsbezogen das Vorbild des Abts, nicht die strikte Regel. Daston kommt auf dieser Grundlage zu dem Schluss, dass die Kleinteiligkeit einer Regel noch nichts über ihre Rigidität aussagt und Ausnahmen ganz selbstverständlich zu Regeln gehören.
Herzstück der Arbeit ist ihre Beschäftigung mit der Geschichte der Algorithmen. Faszinierend ist ihr Blick zurück in die Geschichte der Mechanisierung von Rechenprozessen und der arbeitsteiligen Rechnung in sogenannten „Rechenmanufakturen“. Ein anderes, wunderbar anschauliches Beispiel findet sich im Kapitel über Regulierungen und ihre Bedeutung für moderne Gesellschaften als Vermittlungsversuch zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen. Hier führt Daston zwei konträre Fälle an: Einmal Regulierungen, die scheitern, weil sie das Gegenteil von dem bewirken, was sie fordern, und trotzdem immer wieder bekräftigt werden, und zum anderen Regulierungen, die so erfolgreich sind, dass sie nur mit viel Widerstand geändert werden können, weil sie sich in internalisierte Normen verwandelt haben Als scheiternde Regulierungen führt Daston die historisch immer wieder gesetzten Versuche an, den Überfluss zu verhindern, vor allem in Hinblick auf bestimmte extravagante Kleidermoden. Im Landshut des 15. Jahrhunderts etwas gab es Regulierungen zur Länge der Spitzen von Schnabelschuhen. Damit sollte die Dynamik der ständigen Überbietung durch immer längere Schuhspitzen unterbunden werden. Das bremste aber keinesfalls die modische Extravaganz, sondern regte die Kreativität an, wenn sich die exzentrische Schuhmode dann auf andere Teile des Schuhs verlagerte.
Kochbücher, Spielregeln, Tischmanieren, Kleidervorschriften – Regeln bestimmen jede Kultur und unser soziales Leben, ohne dass wir ständig darüber nachdenken. Das Nachdenken über „schlanke“ und „füllige“ Regeln, über ihre Verankerung in der Praxis und ihre Wechselwirkungen, und die Frage, wofür wir sie eigentlich brauchen, könnte aktueller nicht sein, denken wir an Fragen, welche Rolle Algorithmen in unserem Leben spielen können und sollen und an die Regeln des Zusammenlebens im Kleinen und Großen, die uns heute beschäftigen. Lorraine Dastons Buch ist uns dabei eine unschätzbar große Hilfe.
Alena Heinritz, Innsbruck