Zum Buch:
Vor Jahrzehnten fand W. G. Sebald, bekannt für seine Strenge und Scharfzüngigkeit, bereits die treffenden Worte zur Lage der Kafka-Forschung – eine Diagnose, die sich im vergangenen Jubiläumsjahr einmal mehr bestätigt hat: „Nimmt man heute wahllos eine der seit den fünfziger Jahren erschienenen Kafka-Studien zur Hand, so ist es beinahe unglaublich, wieviel Staub und Schimmel die existentialistisch, theologisch, psychoanalytisch, strukturalistisch, poststrukturalistisch oder systemkritisch inspirierten Sekundärwerke bereits angesetzt haben, wie öde in ihnen auf jeder Seite das Geklapper ist der Redundanz.“
In diesem Sinne erscheinen die drei jüngst von den Neuen Deutsch-Französischen Jahrbüchern veröffentlichten Büchlein – 65 Träume von Franz Kafka von Félix Guattari, Das Trojanische Schloss von Lorenzo Chiesa und Baulärm von Mladen Dolar – beinahe wie eine gezielte Provokation: Drei Bücher, die sich ausgerechnet jener Theoriebestände bedienen, die Sebald einst geißelte. Doch weit entfernt davon, bloße Wiederaufgüsse überkommener Lesarten zu sein, bilden sie ein faszinierendes Triptychon, das Kafkas Verhältnis zur Psychoanalyse aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet.
Guattari, dessen Beiträge auf seine Mitwirkung an der Ausstellung Le Siècle de Kafka im Centre Pompidou zurückgehen, radikalisiert in 65 Träume von Franz Kafka seinen bereits in Kafka: Für eine kleine Literatur (1976, mit Gilles Deleuze) entwickelten Ansatz einer antifreudianischen, antiödipalen Kafka-Lektüre. Besonders bemerkenswert ist sein fragmentarisch gebliebenes Drehbuch – ein Entwurf für einen Film, der nicht über Kafka, sondern von Kafka sein sollte, ein filmisches Experiment, „was [auf das] Kino des XXI. Jahrhunderts“ vorausweist.
Demgegenüber folgt Lorenzo Chiesa einer anderen Spur: Er hält es mit Adorno, demzufolge man Kafka nicht beim Wort nehmen dürfe und ihm keinen Glauben schenken sollte, er „habe nichts mit Freud zu tun.“ Vielmehr gilt es mit Kafka die Psychoanalyse „genauer beim Wort [zu fassen] als sie sich selber.“ Mit Adorno versteht Chiesa Freuds Schweigen und Lacans Wortkargheit über Kafka als Symptom der Psychoanalyse selbst. Daraus ergibt sich eine eindrückliche Doppel- und Parallellektüre von Lacan und Kafka und Kafka und Lacan, die insbesondere am Schloss entfaltet wird.
Mladen Dolar schließlich untersucht in Baulärm Kafkas Erzählung Der Bau ebenso unter Rückgriff auf die Lacan‘sche Psychoanalyse und seiner eigenen Theorie der Stimme (Suhrkamp 2007). In einer ebenso scharfsinnigen, anregenden wie dichten Lektüre fragt er danach, was ein Geräusch ist – und wie es auf eine Reihe von Schwellen verweist, deren Uneindeutigkeiten eng mit dem Aufkommen der Moderne verknüpft sind.
Gerade jetzt, wo das Blätterrauschen des Feuilletons einhellig verkündet „Wir haben den Thomas Mann“, sind diese drei Bücher eine willkommene Intervention: Sie entstauben Kafka nicht nur, sondern lassen ihn als zeitlosen Klassiker neu erstehen – als einen Autor, der uns angesichts einer Gegenwart, die immer kafkaeskere Züge anzunehmen scheint, heute mehr zu sagen hat denn je zuvor.
Jonas Tesseraux, Frankfurt