Zum Buch:
Ein Gemälde erzählt die Geschichte eines Jahrhunderts. Und zwar durch seine schiere Existenz. Es wird gemalt, es wird gekauft, es wird weiterverkauft, es wird ausgestellt. All das sehen wir, aus der Perspektive des Gemäldes: sozusagen mit seinen Augen.
Um welches Bild es geht, verrät schon der Titel der Graphic Novel: Zwei weibliche Halbakte. Gemalt hat es Otto Müller (1874-1930), ein Künstler, der meist dem Expressionismus zugeordnet wurde (was er selbst nicht mochte). 1919 entsteht das Bild, wird rasch ausgestellt und 1925 von dem jüdischen Sammler Ismar Littmann gekauft. Littmann bringt sich 1934 um, seine Sammlung wird von den Nazis beschlagnahmt. Das Bild wird Teil der berüchtigten Ausstellung „Entartete Kunst“. Über mehrere Umwege gelangt es 1946 in den Bestand des Wallraf-Richartz-Museums in Köln, später in die Sammlung Ludwig. 1999 wird das Bild an die ursprünglichen Besitzer restituiert und schließlich vom Museum Ludwig zurückgekauft.
Erzählt wird diese Geschichte vom französischen Comiczeichner Luz. Im Januar diesen Jahres hat er damit den Hauptpreis in Angoulême gewonnen, dem wichtigsten Comicfestival Europas. In Frankreich ist das Buch ein Bestseller, erste Besprechungen in Deutschland schließen sich der Euphorie an. Das Konzept der in gewissem Sinne starren Erzählperspektive funktioniert durchgehend. Die Zeichnungen sind exzellent.
Die Odyssee des Müllerbildes steht stellvertretend für das Schicksal, in dem sich Kunst und KünstlerInnen im 20. Jahrhundert zwischen Politik und einem Markt aufgerieben haben, in dem Kunstverständnis, Verantwortungsgefühl und Gewinnstreben eng nebeneinander liegen. Man merkt Luz an, wie sehr ihn das bizarre Konzept der Ausstellung „Entartete Kunst“ fasziniert, vor allem ihr immenser Erfolg – der deutlich größer war als die parallel gezeigte Schau mit arischer Kunst. Aber es gibt auch noch einen anderen Bezug. Das dramatische Verhältnis von Kunst und Politik hat Luz auf die schmerzhafteste Weise erleben müssen. Als Mitglied der Redaktion von Charlie Hebdo überlebte er das Attentat nur, weil er am 7. Januar, seinem Geburtstag, verschlafen hatte und zu spät zur Redaktionssitzung kam.
Jakob Hoffmann, Frankfurt a.M.