Zum Buch:
Nach seiner Pensionierung zieht der Polizist Tom Kettle in die kleine Hafenstadt Dalkey südlich von Dublin. Er findet eine nette Einliegerwohnung in einer viktorianischen „Burg“ mit Blick auf Garten und Meer. Neben dem Vermieter gibt es dort noch zwei andere Bewohner: eine kürzlich eingezogene junge Frau mit einem kleinen Sohn und ein Cellist, der nach den Übungsstunden gerne mit seinem Gewehr auf Kormorane und Möwen schießt. Kettle ist zufrieden, wenn er in seinem Korbstuhl sitzt und aufs Meer hinausblicken kann, denn das ist es, was Ruhestand für ihn bedeutet: „… er war zufrieden, einfach nur hinauszuschauen. Nichts anderes zu tun. Das war für ihn Sinn und Zweck des Ruhestands, des Daseins überhaupt – unbewegt dazusitzen, glücklich und nutzlos zu sein.“
Ein Idyll also, und wie jedes Idyll nicht von Dauer. Der Besuch von zwei jungen ehemaligen Kollegen, die von ihm Einzelheiten über ein dreißig Jahre zurückliegendes Verbrechen erfahren wollen, stört ihn aus seiner Gemütlichkeit auf – und die Leser ebenfalls. Denn ganz langsam, in winzigen Details, schleicht sich Unbehagen ein. Wir erfahren, dass er Witwer ist und zwei Kinder hat, Winnie, die Tochter, die ihn gelegentlich besucht, und Joe, der Sohn, der in New Mexico als Arzt arbeitet. Aber warum benehmen sich die beiden jungen Polizisten ihm gegenüber so seltsam rücksichtsvoll? Und warum ist sein Chef, dem er sagt, er wolle mit alldem nichts mehr zu tun haben, so verständnisvoll?
Das so beruhigende Bild vom alternden Mann, der zufrieden auf die Wellen blickt, wird gestört durch beiläufig eingestreute Informationen: Kettle war nicht nur ein durchaus brutaler Polizist, sondern zuvor noch äußerst effektiver Soldat und Scharfschütze in Palästina und Malaysia. In seinen Erinnerungen wiederum entsteht das Bild eines äußerst liebevollen Ehemanns und Vaters, Erinnerungen, die glasklar und zugleich äußerst instabil scheinen, manchmal real, getriggert durch Flashbacks, dann wieder – zur Verwirrung des Lesers – eingebettet in Halluzinationen.
Und schließlich schält sich nach und nach der Kern dieses Mannes heraus, geprägt von Traumata und Verlusten: dem Aufwachsen in einem irischen Waisenhaus der brutalsten Sorte, dem Tod seiner geliebten Frau June, dem Tod seiner beiden Kinder. Ich will nicht zu viel verraten, nur soviel: Hinter der Fassade einer wahrhaft glücklichen Ehe, einer wahrhaft liebevollen Familie lauert ein Abgrund von Entsetzen, der schließlich in eine Katastrophe mündet.
Sebastian Barry nimmt sich hier des Themas des systematischen Missbrauchs in katholischen irischen Waisenhäusern und dessen Folgen an, gänzlich ungeschminkt und mit brutaler Offenheit. Er tut das in einem ungewöhnlichen Krimi, der allein schon sprachlich alle Genregrenzen weit überschreitet, auch wenn er sich im Plot der gesamten Werkzeugkiste meisterhaft bedient. Ein Krimi also, eine Geschichtsstunde und ein literarisches Erlebnis, das seinesgleichen sucht.
Irmgard Hölscher, Frankfurt a.M.