Zum Buch:
Im Mai 1940 marschierte die Deutsche Wehrmacht in Frankreich ein. Innerhalb Frankreichs kam es zu einer Massenflucht in den unbesetzten Süden des Landes. Für die Exilanten, unter ihnen viele Maler, Schriftsteller, Intellektuelle, Musiker und politisch Aktive, die vor den Nazis geflüchtet waren und sich zumeist illegal im Land aufhielten, begann eine zweite Odyssee, und für die meisten endete sie in Marseille. Verzweifelt versuchten sie die notwendigen Visa für aufnahmewillige Länder zu erlangen – fast unmöglich für Menschen, die über keine Papiere verfügten oder wussten, dass sie bereits von der Polizei gesucht wurden.
Stellvertretend für die große Menge der Unbekannten, von denen wir heute nichts mehr wissen, zeichnet Uwe Wittstock die Schicksale einiger Prominenter nach, darunter Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Anna Seghers, Max Ernst, Hannah Arendt. Deren Bekanntheit mochte ihnen einiges leichter machen, war aber keineswegs die Garantie dafür, dass ihre Flucht ein glückliches Ende nahm. Als Beispiel für all jene, die versuchten, den Verzweifelten zu helfen, wählt Wittstock den jungen Amerikaner Varian Fry, der zusammen mit Gleichgesinnten in den USA die Hilfsorganisation Emergency Rescue Committee gründete. Mit in den USA gesammelten Spendengeldern baute er in Marseille ein Rettungsnetz auf und versuchte, legale Einreisen in Aufnahmeländer zu organisierten. Für die größte Zahl der Flüchtlinge, die weder über Papiere noch Geld verfügten, versuchte man, gefälschte Dokumente zu organisieren oder dafür zu sorgen, dass Helfer sie über Schleichwege in den Pyrenäen nach Spanien führten.
Wie in seinem erfolgreichen Buch über die Machtergreifung der Nationalsozialisten, Februar 33, stützt sich Wittstock auf Briefe, Tagebücher, Memoiren und Interviews. Die temporeiche, anekdotische Erzählweise und die schnelle Montage der einzelnen Szenen machen das Buch zu einer atmosphärisch dichten, packend erzählten, erschütternden Lektüre.
Wenngleich die politischen Verhältnisse nicht vergleichbar sind: Wie es auch heute ist, nach einer langen, gefahrvollen Flucht irgendwo zu stranden und – ungeachtet der Gefahren – alles zu versuchen, um an einen Ort zu gelangen, von dem man sich Rettung erhofft, macht das Buch auf beklemmende Weise klar.
Ruth Roebke, Frankfurt