Kulturkritiker beklagen Säkularisierung, Moralverfall, Erinnerungsverluste und Gefährdungen demokratischer Selbstbestimmung durch Expertenherrschaft. Diese Klagen sind nicht grundlos. Wichtiger und interessanter sind gegenläufige Tendenzen. Just die Lebensvorzüge der modernen Zivilisation verschaffen denjenigen Lebensproblemen, auf die sich vernünftigerweise einzig religiös antworten lässt, zusätzliche Aufdringlichkeit. Sogar als politischer Faktor ist die Religion wieder präsent – auch im Westen. Je freier wir leben, umso wichtiger wird die Moral, und nicht zuletzt die Folgen misslingender moralischer Selbstbestimmung machen das sichtbar. Die Grundsätze der Moral erfreuen sich unwidersprechlicher öffentlicher Geltung, und gelegentlich verführt uns heute moralisierender Übereifer zu Gewissensaufrufen, wo es, statt an gutem Willen, an Sachkunde und technischer Könnerschaft mangelt. Die Dynamik der modernen Zivilisation entfernt uns von unseren Herkunftswelten. Umso intensiver wird unser Interesse, Vergangenheit gegenwärtig zu halten. Die historische Kultur erblüht fortschrittsabhängig, und noch in den Dauerklagen über Erinnerungsverluste spiegelt sich das. Je moderner wir leben, umso abhängiger werden wir vom Wissen der Fachleute und von der Könnerschaft der Experten. Umso entschiedener beharren wir zugleich auf Selbstbestimmung der Zwecke, für die die Experten uns gut zu sein haben. Politisch begünstigen entsprechend Modernisierungsprozesse die Demokratie, ja erzwingen sie, und sogar für die Institutionen direkter Demokratie gilt das.