Zum Buch:
Zu Anfang des 20. Jahrhundert ließ Nepal keine westlichen Ausländer und vor allem keine Europäer ins Land. Aber da auch diese Regel wie alle anderen Ausnahmen zulässt, lädt der Maharadscha von Katmandu 1912 Alexandra David persönlich nach Nepal ein, damit sie den Geburtsort Siddhartas und all die vielen anderen Heiligtümer und Tempel des Landes besuchen kann. Und so macht sich die 44jährige Französin mit den obligatorischen Dienern auf, das Land im Herzen des Himalayas zu erkunden, natürlich per Sänfte und Tragstuhl, denn die eigenen Beine zu benutzen hieße, den Gastgeber zu beleidigen.
Es ist keineswegs ihre erste Orientreise. Die junge Frau, die in Paris Orientalistik studiert hat und im Buddhismus ihre „Berufung“ fand, bricht bereits 1891 nach Indien auf und bleibt dort, bis ihr das Geld ausgeht. Zurück in Frankreich verdient sie sich ihren Lebensunterhalt als Journalistin, nimmt Gesangsunterricht und tourt als Opernsängerin nicht nur durch die französische Provinz, sondern auch durch die Opernhäuser Indochinas. Dass sie auch Feministin ist, muss man wohl nicht extra erwähnen; das dürfte bei einem solchen Lebenslauf in dieser Zeit selbstverständlich sein. 1911 hat sie jedenfalls genügend Geld beisammen, um wieder nach Indien zu fahren – und in Zukunft im orangefarbenen Gewand der Sanyassis halb Asien zu durchqueren.
Aber nun Nepal, das Land, das seinen Weg zwischen Modernität und Tradition sucht – einer Modernität, wie sie die Engländer nach Indien gebracht haben, und einer Tradition, in der die alten Rituale wie Witwenverbrennung, strikte Trennung der Kasten und Tieropfer weiterhin eine große Rolle spielen. Fasziniert folgt man der Autorin durch Dschungel und Städte, Gärten und Tempel, lernt den schwierigen Umgang mit Beamten und Würdenträgern genauso kennen, wie den naiven Aberglauben der Bevölkerung. Worauf Alexandra David-Néel aber völlig verzichtet, ist die bei dieser Art Reiseberichten fast schon obligatorische Orient-Romantik. Die Tempel, die sie beschreibt, mögen architektonisch reizvoll und mit wunderbaren Statuen ausgestattet sein, aber vor allem sind sie beschmiert mit roter Mennige und, schlimmer noch, mit dem Blut der Opfertiere und übersät mit Unrat aller Art. Mit anderen Worten: es stinkt gewaltig in Nepals Heiligtümern und Städten. Die Kinder leiden unter der Pockenepidemie, ohne dass es jemanden groß zu stören scheint. Und der Buddhismus hat sich seit Jahrhunderten mit Hinduismus und Animismus so weit vermischt, dass kaum noch etwas davon übrig geblieben ist, was der Autorin akzeptabel erscheint …
Alexandra David-Néel hat den Bericht über ihre Nepalreise fast vierzig Jahre später geschrieben, und das merkt man dem Buch an. Hier spricht keine Frau, die den Himalaya zum ersten Mal bereist und gerade erst dabei ist, so tief in die buddhistische Lehre und Philosophie einzutauchen, dass sie von ihrem Lehrer als erste und einzige Europäerin in den Stand eines Lamas erhoben wird. Hier beschreibt jemand aus großer Distanz kenntnisreich und durchaus nicht ohne die Arroganz der Wissenschaftlerin schonungslos eine sehr fremde und keineswegs immer sympathische Kultur, die auch der Besucherin unangenehme Zwänge auferlegt, von der Unbequemlichkeit und Einschränkung in der Sänfte bis zu der ständigen Begleitung durch die Beauftragten des Gastgebers, die ihr immer wieder so höflich wie unerbittlich vorschreiben, was sie wann zu besichtigen hat. Die bei aller Distanz ungebrochene Begeisterung aber bricht immer dann durch, wenn es um die Natur geht: um die eisigen Berggipfel, den Dschungel, die Tiger, die Elefanten. In diesen Beschreibungen findet die Leserin dann doch genügend Exotik, um das Fernweh zu wecken …
„Im Herzen des Himalaya“ ist ein bemerkenswertes Buch einer bemerkenswerten Frau, über die man nach der Lektüre des Vorworts von Susanne Gretter unbedingt mehr erfahren will. Das liebevoll gestaltete Bändchen ist darüber hinaus eine Zierde für die Weihnachtstische all derjenigen, die wissen, was Fernweh ist.
Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main